Fließendes Land (German Edition)
englischen Königshaus verwandt war und deren andere Cousine den letzten Kalifen von Ägypten heiratete und ein schönes Buch über ihre kurze Ehe unter dem Titel »Harem« schrieb?
Ein ganz anderer Einsatz wäre prägnanter. In den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs, als die deutschen Truppen Holland besetzt hatten, war es die knapp dreißigjährige Malerin Gisèle, die dem mittellosen, aber charismatischen Wolfgang Frommel half, in ihrer Amsterdamer Dependance Herengracht 401 jüdische Knaben zu verstecken und ihnen so das Leben rettete. 1992 erhielt sie das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. 1998 wurde ihr Name in Jerusalem auf die Ehrenwand der Gerechten geschrieben: Gisèle d’Ailly van Waterschoot van der Gracht.
Dann müßte also bald ihr Mann genannt werden, der überaus beliebte, aus einer alten Hugenottenfamilie stammende ehemalige Bürgermeister von Amsterdam Arnold d’Ailly, der seinen Beruf aufgab, sich von seiner Frau trennte (seine vier Kinder waren schon erwachsen), um – 1959 ein gesellschaftlicher Skandal! – die zehn Jahre jüngere katholische Malerin zu heiraten und zu ihr in die Herengracht zu ziehen. Während einer gemeinsamen Reise nach Griechenland entdeckten die beiden auf der Kykladeninsel Paros ein verlassenes Kloster über einer abgelegenen Bucht und begannen, es wieder herzurichten. Nach dem frühen Tod ihres Mannes sollte Gisèle dort fast zwanzig Jahre lang alleine leben und malen, immer zwischen April und November, bis sie 1982, siebzigjährig, endgültig der wachsenden Zahl von Autos, Motorbooten und Touristen auswich und wieder ganz nach Amsterdam in die Herengracht 401 zurückkehrte.
Noch heute lebt die 92jährige dort, in einer Mehrgenerationen-Wohngemeinschaft mit zwei alten Herren und zwei jungen Männern. Abends trifft man sich in der gemeinsamen Küche, in der eine marokkanische Köchin die Speisen bereitet hat. (Morgens, bevor sie einkaufen geht, erfährt sie, wie viele Personen mitessen werden.) Die jungen Hausbewohner arbeiten für den im Haus ansässigen Castrum Peregrini-Verlag und die gleichnamige Zeitschrift, die, nach dem Krieg initiiert von Wolfgang Frommel, ohne Gisèle nicht existieren würden. Die älteren, Claus Victor Bock, 78, emeritierter Literaturprofessor, und Manuel Goldschmidt, 78, ehemaliger Direktor des Castrum Peregrini, stehen schon fast ein Leben lang miteinander im Gespräch. Sie waren Schulkameraden auf der Quäkerschule im holländischen Eerde und gehörten zu jenen Kindern, die vor über 60 Jahren bei Gisèle untertauchen konnten.
Hier also beginnen, in der Herengracht 401, einem Haus, das, wie ein Schiff spitz gegen Westen zeigend, gegen das Meer, gegen die Geschichte, sich in die Kreuzung zweier Grachten schmiegt: jetzt im Winter 2004 hoch oben, im Hinterflügel, wo unter dem gläsernen Zeltdach des Ateliers eine zierliche alte Dame in einem blauen Hemd weit die Arme öffnet und ruft: »Was ist die Zeit!« Gerade hat sie einen Anruf bekommen, stellt Euch vor, von einem Schiff! Ein Freund, ein Professor, habe ins Telephon gerufen: Gisèle, wir fahren gerade an deinem Kloster vorbei, Gisèle, hörst du? Und das sei doch wunderbar, so ein morgendlicher Gruß aus Griechenland, von Agios Joannis. Dieser Professor habe nun auch ein Haus dort, aber sie sei damals die erste gewesen, ganz allein, kein Strom, kein Licht. Der nächste Bauer wohnte eine gute Viertelstunde entfernt. Mit einem Esel brachte sein Sohn in Amphoren das Trinkwasser und mittags kam die Tochter mit dem Essen. Seht Ihr die Treppe? Sie dreht sich um und zeigt auf die weißgekalkten, halbwendigen Steinstiegen: Die habe ich von einem der Fischerhäuser dort abgezeichnet, ganz genau. Und dann habe ich sie hier bauen lassen. Ich habe ein Stück Paros nach Amsterdam gebracht.
Der große Raum öffnet sich im frühen Licht. Wenn Fischertreppen ans Wasser zu den Booten führen, leitet Gisèles Treppe in ihr Atelier zu ihrem Strandgut, ihren Bildern. »Rollende Tage«, ein Tableau aus blau-transparenten, sich überschneidenden Kreisen, setzt an die Stirnseite einen Horizont bewegter Himmelswolken und den Wechsel der Gestirne. Sie atmet tief durch. Diese Sonne, sagt sie und beschreibt mit den Händen einen Bogen – als könne ein Tanz beginnen oder als wolle sie den Glanz greifbar machen –, wie habe sie sich gefreut, als die Sonne heute morgen kam! In ihrem faltigen Gesicht stehen zwei große Augen wie blaue Glasfenster. Außerdem freue sie sich über den
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