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Fließendes Land (German Edition)

Fließendes Land (German Edition)

Titel: Fließendes Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Overath
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auf die Straße konnten, die aufpassen mußten, wenn sie aus dem Fenster sehen wollten. Meist haben sie nachts gelebt und tags geschlafen. Die hätten leicht verrückt werden können. Aber Wolfgang hat sie beschäftigt. Er hat ihnen Aufgaben gegeben, sie lasen zusammen, übersetzten, er initiierte sie in die griechische Dichtung, die Kunst, die Geschichte, die Welt von Stefan George.
    Belehrung
    Um welchen preis gibst du mir unterricht?
    ›Lass mich den sinn der in dir ist erfahren
    Dass du dich in der wahren schönheit zeigst –
    Dein rechter lehrer bin ich wenn ich liebe.
    Du musst zu innerst glühn – gleichviel für wen!
    Mein rechter hörer bist du wenn du liebst.‹
    Sie führt uns die weiße Treppe hinauf. Rechts hinter einer Verglasung liegt das mit Kieseln aufgeschüttete Flachdach des Ateliers. Sie springt hinaus, an den mit Gesichtern bemalten Abluftrohren vorbei und zeigt über die Dächer Amsterdams, als schenke sie uns ihre Pracht. Ob das nicht schön sei. Und wenn es warm ist, dann trügen sie Matten herauf und picknickten hier. Sie steht am Rand. Sie ist schwindelfrei. Sie habe viele Jahre in Kirchen hoch oben Glasfenster kopiert und Glasmalereien angebracht, auch da drüben in der Kirche »De Krijtberg« und im Beginen-Hof, wart Ihr dort?
    In diesem Hausensemble gehen Wohnungen ineinander über, verzweigen sich als Labyrinthe von Stiegen, durchbrochenen Wänden, Winkeln. Gisèle geht voraus in die Räume, in denen sie mit ihrem Mann gelebt hat. Hier sein Arbeitszimmer, eingedunkelte Buchrücken, von der Zeit patinierte Erinnerungen, dort der Intarsientisch von Joseph Hammer-Purgstall, aber sie winkt weiter. Da, sagt sie, da am Boden, wo jetzt die Pflanzen stehen, da war das Aquarium mit den Salamandern. Und jeden Abend, bevor wir hinaufgingen zum Schlafen, haben wir uns auf den Treppenabsatz gesetzt und die Salamander mit Würmern gefüttert. Sie hockten dann schon auf den Hinterbeinen. Das war sehr lustig.
    Oben, neben ihrem Himmelbett, verwahrt sie einen guten Regalmeter Handschriften. Sie zieht ein Bändchen heraus, Weisheitssprüche, Gedichte, eine Anthologie der Freunde zum ersten Geburtstag nach dem Krieg, aber hier: »Der getreue Johann. Ein Marionetten-Spiel nach dem gleichnamigen Märchen von Grimm. 1943 von F. W. Buri in Bleistift geschrieben und mit der Hand eingebunden.« Ein Geschenk aus nichts, eine der Not des Verstecks abgerungene Kostbarkeit: der Einband Abfallpappe, die Bindung Metallklemmen, eine Handschrift wie gemalt mit einem Bleistift, einem Rotstift, einem Blaustift, die Verse rhythmisch makellos.
    Am Tag darauf bitten wir Gisèle, uns den Film zu zeigen, den Cees van Ede, ein in Holland berühmter Dokumentarfilmer, vor sieben Jahren über sie gemacht hat. Aber Gisèle kann die Kassette nicht finden. Zwei Stunden später ist Cees van Ede da.
    Gisèle strahlt. Der junge Regisseur elektrisiert sie. Sie flirtet. Wir trinken Kaffee, den Gisèle in dicken österreichischen Steinguttassen serviert. Which language are you talking, flötet sie, als sie das Ingwergebäck hereinbringt. Und spielend wechselt sie die Sprachen, hockt koboldenergisch auf einem niedrigen Baststuhl, die Hände auf die offenen Knie aufgestützt, um bei jeder Gelegenheit wieder aufzuspringen und ein Photo, einen Zuckerlöffel, einen Seestern zu bringen. Cees lacht und bleibt. Bei Gisèle sein heißt, Zeit geschenkt bekommen. Und dann sitzen wir alle vor dem Fernseher, nein Gisèle sitzt nicht, sie reitet – wie immer, wenn sie fernsieht – auf einem alten glitzerndbunten Karussellpferd, dessen Mähnenhals sie umschlingt. Als sie den Film zum ersten Mal gesehen hat, flüstert Cees uns zu, war sie enttäuscht, weil sie sich alt fand. Wir mußten lange miteinander sprechen und ihr versichern, daß sie mit 85 Jahren zwar alt sei, natürlich, aber auch ein Mädchen, immer noch ein wunderbares Mädchen.
    Dann läuft der Film, und Gisèle sammelt im Schloßhof von Hainfeld Pfauenfedern auf und geht mit der gut neunzigjährigen Cousine Cleo durch die Hammer-Purgstall-Bibliothek, und nun sind wir mit auf Paros, wo sie, nach fast zwanzig Jahren zum ersten Mal, wieder ihr verlassenes Kloster besucht. Die Kamera begleitet sie zur Tür, sie ist verschlossen. Gisèle geht herum und sucht doch einen Einschlupf, ein offenes Fenster zum Schauen, eine Tür. Sie vergißt die Kamera, und dann steht sie auf der weißen Treppe, schmal, in einem langen Rock: die Silhouette einer Tragödin, ausgesetzt, präsent, sehr

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