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Fließendes Land (German Edition)

Fließendes Land (German Edition)

Titel: Fließendes Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Overath
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Vorsemantisch erfährt es Sprache als körperlich-lautliche Zuwendung. In Fingerspielen wie »Binki/Dalli/Rafti/Platti/Fausti« (Stubsen, Krabbeln, Schlagen mit dem Handrücken, der flachen Hand, der Faust) nimmt es Wortentstehung als taktile Bewegung wahr. Sprechenlernen ist im schönsten Fall Spiel und Sinnlichkeit.
    Zumindest das Spiel sollte sich in den Fremdsprachenunterricht hinüberretten lassen. Kreatives Schreiben kann anknüpfen an ein rhythmisches, klangliches und bildliches Spracherleben, das sprachenübergreifend wirkt. Denn Fremdsprachenkompetenz und poetisches Vermögen sind nicht deckungsgleich. Ein Umstand, der gerade für »schwächere« Sprachschüler hilfreich sein kann. Ich werde nie einen jungen Chinesen vergessen, der, wie auch immer, in einer meiner Schreibgruppen mit Schweizer Muttersprachlern aufgetaucht ist. Er stammelte irgendwas von »schöne Sätze schreiben«. Er konnte praktisch kein Deutsch. Später erfuhr ich, daß er in seiner Heimat als Lyriker bekannt war. Er stürzte sich auf die Schreibspiele. Die Texte, die er vorstotterte, waren erst nach mehrfachem Vorlesen und gemeinsamem Rätseln zu verstehen. Aber sie waren interessant. Er hatte einen Blick, eine Sensibilität für Sprache. Und auf dem Weg der »schönen Sätze« machte er unglaubliche Fortschritte im Deutschen.
    Es gibt Königskinder des kreativen Schreibens, die wenig Sprachkompetenz voraussetzen. Das schönste ist vielleicht das »Elfchen«, ein Gebilde aus elf Wörtern, die auf fünf Zeilen verteilt sind. (Erste Zeile: ein Wort; zweite Zeile: zwei Wörter; dritte Zeile: drei Wörter, vierte Zeile: vier Wörter; fünfte Zeile: ein Wort). Das erste Wort gibt das Motiv vor (eine Farbe, ein Tier, ein Nahrungsmittel, ein Kleidungsstück u. a.); das letzte Wort versucht eine Pointe, einen Umschlag, ein Überraschen. Ein amerikanischer Deutschstudent schrieb mir ein Farb-Elfchen, das zugleich seine Situation als Sprachschüler reflektierte:
    Braun
    Hase frißt
    Holz obwohl trocken
    er schärft die Zähne
    durchhalten
    Walter Benjamin überliefert das »Fünf-Wörter-Spiel« aus den Salons des Biedermeier, als Menschen sich offensichtlich manchmal einen Abend lang mit Schreiben vergnügten. Die Aufgabe bestand darin, aus fünf Wörtern, die nicht zusammenpassen, kohärente und möglichst kurze Texte zu entwickeln. Das Genre war frei. Schon das Suchen von fünf nicht zueinanderpassenden Wörtern kann zum gemeinsamen poetischen Spiel werden. (Eine Wortschatzübung ist es allemal.) Denn als seien sie Seelen-Magnete, ziehen die Wörter Verwandtes und eben nicht das Fremde an. Im Widerstand des nicht passenden Worts aber liegt die Chance für Poesie.
    Geht das Elfchen von einer extrem strengen Wort-Zeilen-Struktur aus, arbeitet das Fünf-Wörter-Spiel mit einem fixen, in sich spröden Minimalwortschatz, so können andere Schreibspiele thematisch orientiert sein. Der Anreiz zu schreiben kommt dann vom Gegenstand. Je mehr der Schreibende sich in eine Aufgabe hineindenken will, um so besser werden die Texte. (Etwa: Setze deine Eltern, selbst wenn sie getrennt leben, an einen Tisch deiner Wahl und schreibe die Szene.) Wer einen Grund hat zu schreiben, wen eine Sache interessiert, wer berührt ist oder nur etwas ausprobieren möchte, der wird sich bemühen. Instinktiv wird er in der fremden Sprache heimisch werden.
    Nähe, ja Intimität im Fernen, im Unbekannten entsteht. Die Sprache selbst (als ein lebendiger Körper) kann dann die Rolle der antwortenden, der sprachspielenden Mutter übernehmen. Mit ihr zusammen wächst er.
    »Es sind da einige deutsche Wörter, die mich sprechen«, formulierte eine amerikanische Deutschstudentin im Kurs. Der Satz, so semantisch falsch er ist, hat seine seltsame Wahrheit, die anders als im offenen Kinderland der Poesie nicht zu haben ist. Auch in einer Fremdsprache hat Schreiben etwas mit Vertrauen zu tun. Das lernende Ich wird Echoraum für Töne, Inventionen, Konstellationen, die noch nicht entschieden sind.
    Das Vallader war nicht so höflich wie die Einheimischen. Aber es war so geduldig, auf mich zu warten, mich Gedichte schreiben zu lassen: freie Probeläufe für die Sätze auf der Straße.

Die Hirtin
    Sie fürchtete sich nicht. Sie war sich selber Hirtin und eine ganze Herde aufschäumender Schafe. Die weiten Fluren waren grün und das Eislicht über den Bergen versprach eine Ordnung. Sie war darauf gekommen, ihrer Angst einen Namen zu geben. Damit sie ihr folge. Hund, hatte sie also gerufen,

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