Fließendes Land (German Edition)
getrocknete Kränze finden.
Michael Defüster, ehemaliger Architekt, 47 Jahre alt, ist der jetzige Direktor des Castrum Peregrini. Er wohnt einige Grachten weiter in der sogenannten Komturei, einem großzügigen versteckten Hinterhaus, das das Castrum aus seinem Stiftungsgut vor einigen Jahren erwerben konnte. Hier finden regelmäßig Freundestreffen und Vorträge statt.
Zum Abschied fahren wir ans Meer. Es ist ein naßkalter, windiger Tag mit Fetzen von blauem Himmel, ab und an erscheint ein Stück Regenbogen über den Ebenen. Die Ausfallstraße führt an Spaarnwoude vorbei. Ob wir nichts von den Gräbern wüßten?
Gisèle und ihr Ehemann Arnold hatten bei einem ihrer Fahrradausflüge ans Meer diesen natürlichen Deich entdeckt mit einer Kirche, dessen Besiedlung auf 2000 v. Chr. zurückgeht. Heute gehört er zum Weltkulturerbe. Sie haben wohl an der Mauer gesessen und dann über diese Weite gesehen bis nach Harlem hinüber und beschlossen, hier begraben zu werden. Als einstiger Bürgermeister von Amsterdam konnte Arnold das erreichen. Sie kauften acht Grabstellen. Acht? Ja, für die Freunde eben auch.
Im Grün der Wiese liegen graue Steinplatten wie riesige Bücher, deren eingemeißelte Lettern sich lesen wie Autorennamen auf einem selbstgeschriebenen Leben.
Apropos Alfred Andersch
Ein Besuch bei Hans Magnus Enzensberger
Pfauenaugen, Glas, Bücher. Bodenlange Vorhänge rahmen hohe Fenster, hinter deren Scheiben unkontrolliert ein struppiger Streifen Dachgarten wächst. Dann kommen schon die gestaffelten Häusergiebel von Schwabing. Was nicht in die Luft führt, führt zum bunten Wandteppich aus minutiös sortierten Regalen. Der Dichter schlägt die langen Beine übereinander und spielt mit der kalten Zigarette in der Hand. Und da ist es wieder, das alte Jungenlächeln, das Pilotenlächeln. Auf dem ovalen Biedermeiertisch steht eine flugbereite Pusteblumenblüte in einen Harzwürfel gegossen. Also zurück.
Es war einmal Stuttgart. Es war einmal der Süddeutsche Rundfunk. Es war einmal Alfred Andersch. Der neunte Band der neuen Gesamtausgabe liegt auf dem Tisch. Ein Lesebändchen markiert »Hohe Breitengrade oder Nachrichten von der Grenze«. Hans Magnus Enzensberger greift nach dem Feuerzeug.
Fehlen des Holzes, also keine Wurzeln, Baumrinden, Astformen, Kronenbildungen, Querschnitte von Jahresringen. Stein als einziges Material für unbewegliche Zeichen: entweder als Petrefakt oder als geologische Großform. Versteinerungen von: Blättern der Sequoia, des Gingko, der Kastanie, der Weinrebe, der Eiche, Gehirn, Ohren, Augen, Nerven, elektrische Organe des Urfisches Kiaeraspis, Schalen des Panzer-Urfisches Anglaspis, ferner Lamellibranchiaten, Brachiopoden, Crustaceen, Gastropoden, Bryozoen, Crinoiden, Anthozoen, Korallen, Spongien. Die Leitfossilien bilden ein Zeichensystem, das nur annähernd mit Wörtern wie Sterne, Haare, Fühler, Schuppen, Muscheln, Schwamm-Höhlungen, Schilder, Windungen, Wirbel, Spiralen wiedergegeben werden kann. (Rein funktionellen Ursprungs, liefern sie heute, jenseits der Geologie, ästhetische Informationen, die jedoch sprachlich noch nicht ›übersetzt‹ werden können, außer in Dichtung.)
Angefangen habe es in Baden-Baden. Er sei mit dem Studium fertig gewesen – »Der Universität zu entkommen war immer mein Ziel« – und habe beim Jazzpapst Joachim-Ernst Berendt volontiert, Tonbänder herumgetragen und dabei natürlich auch bei der einen oder anderen Redaktion hineingeschaut. Damals habe er sich für den schwarzen Humor in der französischen Literatur interessiert und ein Manuskript verfaßt: »Das schwarze Gelächter«. Das schickte er nach Stuttgart an Alfred Andersch, weil der da so ein Nachtstudio hatte. Andersch antwortete auch prompt. Und lehnte ab. Der Text sei sehr gut, er müsse aber als Zensor agieren. »Da waren vermutlich Obszönitäten drin, ich weiß das nicht mehr so genau. Es ist heute ja unvorstellbar, worüber sich Menschen damals aufgeregt haben. Aber Andersch schrieb am Schluß, ich solle doch einmal in Stuttgart vorbeikommen.«
Am 1. Oktober 1955 wird Dr. Hans Magnus Enzensberger, ein Mann von 25 Jahren, Assistent des Redakteurs Alfred Andersch beim Süddeutschen Rundfunk, Stuttgart. Andersch ist nicht nur fünfzehn Jahre älter. Als Sohn eines Offiziers, kommunistischer Jugendleiter, KZ -Häftling in Dachau, Wehrmachtssoldat, Deserteur an der italienischen Front, amerikanischer Kriegsgefangener, Herausgeber der Monatszeitschrift »Der Ruf« in der
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