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Fließendes Land (German Edition)

Fließendes Land (German Edition)

Titel: Fließendes Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Overath
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irgendetwas dazugehört. Über den Ungarn-Aufstand 56 haben wir uns dann ziemlich in die Haare gekriegt. Ich war ganz dafür, und er sprach von Weißgardisten, Konterrevolutionären!Und später die 68er-Nummer hat ihm überhaupt nicht gepaßt. Wir haben uns schließlich gütlich getrennt. Ich hatte ja auch nicht die Absicht, eine Karriere beim Rundfunk zu machen.«
    1958 zieht Alfred Andersch ins Tessin; 1961 Enzensberger nach Norwegen auf die Insel Tjøme. Beide haben sich entschlossen, als freie Schriftsteller zu leben. Enzensberger wird später für kurze Zeit Lektor im Suhrkamp-Verlag. Wenn man Bücher machen will, so seine Motivation, muß man wissen, wie ein Verlag von innen funktioniert. Andersch und Enzensberger bleiben in kollegialem Kontakt; man besucht sich gegenseitig. 1959 erscheint »Zupp«, ein Kinderbuch von Hans Magnus Enzensberger mit Bildern von Gisela Andersch. 1961 treffen sich die beiden Autoren beim 70. Geburtstag von Nelly Sachs in Stockholm.
    Gletscher. […] Seine Starre ist nur scheinbar; in Wirklichkeit explodiert er in jeder Minute, sendet Pulverwolken von Schneestaub aus. Außerdem fliegen in seinen Spaltenhöhlen die Vögel ein und aus.
    Die Grenze. Das wichtigste Kennzeichen der Packeisgrenze ist, daß sie sich ständig verändert. Sie ist ein heraklitisches Zeichen.
    Alfred Andersch ist heute Schulbuchlektüre. Die 2005 im Diogenes-Verlag erschienene, sorgfältig kommentierte Werkausgabe in zehn Bänden ist ein weiterer Schritt, aus einem gelesenen Autor einen Klassiker zu machen.
    1990 überraschte W. G. Sebald mit einem posthumen Angriff auf Andersch, der einer Vernichtung gleichkam. Sebald warf Andersch vor, er habe sich aus Karrieregründen 1943 von seiner halbjüdischen Frau Angelika scheiden lassen. Der Herausgeber der Werkausgabe kann diesen Vorwurf aufgrund der Fakten widerlegen. Auch Enzensberger wehrt ab. Ihn ärgert die Haltung der Nachgeborenen, die sich zu Richtern machen. Das Wort vom »Mangel an moralischer Phantasie« fällt. »Sebald hat schlecht recherchiert. Aber natürlich hatte Andersch Grauzonen; das sind ja die interessanten Seiten an einem Menschen.« Und die Frage, inwieweit Anderschs jüdische Figuren, Franziska in »Die Rote« etwa oder Judith in »Sansibar oder der letzte Grund«, antisemitisch gezeichnet sind, wird jeder Leser für sich selbst entscheiden müssen. »Er war ein penibler Mensch, sein Schreibtisch war immer aufgeräumt, alles parallel, Bleistifte, Lineal, Papierstapel. Und von allem wenig. Er war pedantisch und hatte ein Kontrollbedürfnis. Und bis zuletzt hatte er ein politisches Problem. Irgendetwas wollte sich nicht lösen. Es gab eine frühe Prägung, eine geologische Schicht in ihm, die ihm geblieben ist, die aber keinen Bezug mehr hatte zu seiner eigenen Lebensrealität. Wenn er »Nattern und Schmeißfliegen« hörte, dachte er sofort, die Nazis kommen wieder. Da hat er überreagiert. Das Gedicht »Artikel 3« war eine solche Überreaktion. Aber er war eben nicht nur ein sturer Altkommunist! Es gab bei ihm diese Ambivalenzen. Er hatte einen leicht paranoiden Zug, und er war kein robuster Mensch. Von einer dicken Freundschaft wüßte ich nicht. Es gab bei ihm dieses Bedürfnis nach Distanz.«
    Vollständige Abwesenheit künstlicher Lichtquellen während des arktischen Tags. Keine Feuer, kein Vulkanismus. Das Licht ist immer Himmelslicht, über dem Eis von unerträglicher Helligkeit. […] Spezielle Phänomene: von Nordwesten und Norden einfallendes Licht, während der meist windstillen ›Nacht‹ in rötlicher Filterung; die Schatten fallen nach Süden. Eisblink«
    Ein Sonnenstreifen fällt über den Tisch, den ewig flugbereiten Löwenzahn. Der Dichter steht auf und zieht die Pfauenaugen ein wenig zu. Was wichtig sei von Andersch, was ihm noch wichtig sei, heute? »›Kirschen der Freiheit‹ hat mich interessiert, die Zeit interessiert mich. In »Winterspelt« stehen interessante Sachen. Die Erzählungen habe ich gerne gelesen und natürlich die Nordlandreportagen. Die Nordlandreportagen sind vielleicht das beste, was er geschrieben hat. Und dann wäre noch zu sagen, daß ich ihm dankbar bin.«

V Coda

Es ist jetzt die Musik, die will
    Gedanken zur Bachschen Kantate Nr. 73
    Was für ein seltsam fremder und naher Satz: »Herr, wie du willt, so schick’s mit mir, im Leben und im Sterben«! Dieser Text ist 429 Jahre alt. Er kommt aus einer Zeit, da die Reformation noch jung war. Und der Pfarrer und Dichter Kaspar Bienemann (fast noch

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