Fließendes Land (German Edition)
ein Zeitgenosse Luthers) stand mit seinem Lied damals schon auf schwierigem Boden. Worin liegt denn die Freiheit eines Christenmenschen? Was vermag der menschliche Wille? Kann sich der Einzelne auf Gott zubewegen, so daß seine Glaubensenergie mit der Gnade eines gütigen Herrschers zusammenkommt? Hat er – Geschöpf einer höheren Macht – in seiner Hingabe an das, was ihn übersteigt, die kleine Chance, Einfluß zu nehmen auf sein Heil? Oder ist er ausschließlich auf eine unbegreifliche Huld angewiesen, die ihn erwählt – oder eben nicht erwählt?
In Kaspar Bienemanns Lied jedenfalls spricht ein Ich unmittelbar zu einem Du. In einem Akt absoluten Vertrauens übergibt dieses Ich seine ganze Existenz diesem anderen.
»Herr, wie du willt, so schick’s mit mir« ist das bekannteste Lied von Kaspar Bienemann; es findet sich heute noch als Nr. 367 im Evangelischen Gesangbuch. Die Bachsche Kantate, die zitathaft mit diesem alten Choral beginnt, wurde am 23. Januar 1724 in Leipzig uraufgeführt. Im selben Jahr, nur einige Winterwochen, einige Frühlingswochen später, wurde am 22. April in Königsberg ein Junge geboren, der die europäische Geistesgeschichte verändern sollte. Mit Immanuel Kant erfuhr das abendländische Denken die definitive Wende hin zur Selbstbestimmung. Von nun an stand nicht mehr Gott im Mittelpunkt der menschlichen Existenz, sondern das autonome Subjekt. Zwar schloß Kant Gott nicht kategorisch aus, aber er schloß ihn nicht mehr unbedingt ein. Gott war eine Möglichkeitsform geworden: »Der Beweisgrund von dem Dasein Gottes, den wir geben, ist lediglich darauf erbauet, weil etwas möglich ist.« Erstmals sah sich der Mensch unter einem offenen Firmament und war vor sich selbst und den anderen Menschen (nicht aber vor Gott) für sein Handeln verantwortlich. »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.«
Heute sind wir Kinder der Aufklärung. Wir haben gelernt, uns unseres Verstandes zu bedienen. Wir sind Wollende. Die Zukunft ist zu leisten; gerne sehen wir uns als Sieger unseres Daseins. Versagen, das wäre ein Luxus, den wir uns nicht leisten können. Was also machen wir mit so einem Satz: »Herr, wie du willt, so schick’s mit mir«? Diese Worte drehen jedes strebende Erfolgsprinzip um. Sie hebeln das freiheitliche Wollen aus, sie werfen das Subjekt zurück in die Bindung an ein Du, dem es uneingeschränkte Autorität über sich einräumt.
Ich höre die Bachsche Kantate nicht als Gläubige. Sondern als Staunende. In diesem Text, in dieser Musik geschieht etwas, das mich berührt, unabhängig von jeder christlichen Glaubensbotschaft. Ich frage mich, was das ist. Vermutlich hängt es zusammen mit einer Spannung zwischen Wollen und Zulassen, Freiheit und Demut, Ich und Du.
Der erste Eindruck ist feierliche Heiterkeit. In den alten Choral läßt ein unbekannter Dichter mit Tenor, Baß und Sopran drei subjektive Stimmen hineinsprechen. Nachdem der chorische Eingang die ungebrochene Gotteszuversicht zitiert hat, setzt zunächst mit der Tenorstimme eine persönliche, widersprechende Klage ein: »Ach! Aber ach!« In wenigen Worten ist ein Mensch umrissen, der sich in einer ganz und gar aussichtslosen Situation befindet. Das Leben ist ihm eine Folter, und die Aussicht auf den Tod verspricht keine Linderung (»kaum will meine Not im Sterben von mir scheiden«). Schlechter kann es einem nicht gehen.
Über diese Hoffnungslosigkeit schreitet der Chor wie ungerührt hinweg mit der ganzen Kraft des alten Lieds. Worauf der Dichter eine ausgleichende Baßstimme antworten läßt, die zwischen dem Verzweifelten und der Glaubenssicherheit des Chors vermittelt, indem sie von Zuversicht spricht.
Und der Chor, wie ein Generalbaß der Glaubensstärke, singt daraufhin seine Schlußzeilen der Strophe, die den Willen Gottes fraglos über alles setzen.
Seraphisch reflektiert als dritte Solostimme der Sopran nun die nicht zureichenden Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis. Gottes Wille bleibt ein versiegeltes Buch. Gegenüber Gott befindet sich der Mensch im ständigen Mißverstehen. Was als Ruhe des Todesschlafes gemeint war, fürchtet er als Eingang zur Hölle. (Der Tod als Schlafes Bruder, den der Dichter hier zitiert, steht in einer antiken, nicht in einer biblischen Tradition.)
Der Mensch versteht sein Leben und Sterben nicht,
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