Fließendes Land (German Edition)
dann ganz am Ende das Du, das Gegenüber der Musik. Sie lindert die Angst vor dem Leben wie die Angst vor dem Tod.
Weil es dieses Du der Musik gibt, kann die religiöse Tonkunst auch etwas von der Bürde des modernen, auf sich allein gestellten Ich mit fortnehmen. Und fast scheint es mir, als habe der Komponist an der Wende zur Aufklärung etwas von dieser neuen, gefährlichen Freiheit einer Autonomie der Kunst gewittert. Mit dem golden-schlichten Siegel eines Chorals, wieder aus dem 16. Jahrhundert, schließt er sicher diese Kantate. Der Choral (von Ludwig Helmbold, einem Philosophieprofessor, Pfarrer und Kirchenlieddichter) ist ein strahlend ungebrochener Lobpreis der göttlichen Dreieinigkeit.
»Herr, wie du willt, so schick’s mit mir, im Leben und im Sterben« – diese fremde Zeile aus der Zeit der Reformation hat für mich ein Echo in einem Hölderlinvers, in dem es um die notwendige Erfahrung von Leid, Angst, Entzweiung geht:
Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,
Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern’.
Der Vers entstammt der Ode »Lebenslauf«, einem Gedicht, das Hölderlin nach einer Liebes-Verlusterfahrung schrieb. Am Anfang steht das Bild vom Lebensbogen des Menschen, der aufstrebt und, nach der Erfahrung des Leids, sich krümmt, zurückgebogen wird. Aber erst in dieser Schmerzens-Biegung hat der Lebensbogen die Spannung für den Pfeil (der Freiheit, der Kreativität, der Kunst), der weiter reicht, als er allein es könnte.
Lebenslauf
Größers wolltest auch du, aber die Liebe zwingt
All uns nieder, das Leid beuget gewaltiger,
Doch es kehret umsonst nicht
Unser Bogen, woher er kommt.
Aufwärts oder hinab! Herrschet in heil’ger Nacht,
Wo die stumme Natur werdende Tage sinnt,
Herrscht im schiefesten Orkus
Nicht ein Grades, ein Recht noch auch?
Dies erfuhr ich. Denn nie, sterblichen Meistern gleich,
Habt ihr Himmlischen, ihr Alleserhaltenden,
Daß ich wüßte, mit Vorsicht
Mich des ebenen Pfads geführt.
Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,
Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern’,
Und verstehe die Freiheit,
Aufzubrechen, wohin er will.
Nicht in den Worten des Chorals, aber in der musikalischen Umsetzung von Bach höre ich etwas von dieser Freiheit, die sich der Demut der Leiderfahrung verdankt. Man kann an dieser hölderlinschen Schlußstrophe begreifen, wie kurzsichtig die strenge Entgegensetzung von unbedingter Hingabe an den Willen Gottes und moderner vollkommener Selbstbestimmung ist. Wir haben zwar die Freiheit aufzubrechen, wohin wir wollen, aber die Gabe der Freiheit ist ihrerseits etwas, das wir, Geschöpfe einer nicht erkannten Macht, uns nicht selbst zu verdanken haben. Sie wurde uns geschenkt.
Sei es der christliche Gott, das Bildnis der antiken Götter, die kosmische Natur des bestirnten Himmels, oder das Du der Kunst: In der einwilligenden Bewegung hin zu einem Gegenüber, das uns übersteigt, liegt eine ungemeine Entlastung.
Wir haben unser Leben eben nicht in der Hand.
Wir sind lange nicht Herrscher über die Natur. Und ohne Bescheidenheit kommen wir auch in der Kunst nicht weiter. Wir bleiben, bei allem sicheren Handwerk, angewiesen auf die Epiphanie, den entscheidenden Augenblick, den Moment, wo das persönliche Ich unwichtig wird und sich etwas ereignet, das sich unserm praktischen Willen für eine ewige Sekunde entzieht.
Einer dieser Momente ist (in dieser Kantate) für mich der Augenblick, wenn in der Schlußarie am Beginn der letzten Strophe beim dritten »willt« das Pizzicato einsetzt, und das kommende, körperschwere Wort der »Leichenglocken« tänzerisch mitnimmt in das unerschrockene und schon selbstvergessene Unterwegssein eines hilflos aufrechten Ich.
Flimmern
Das Kind schlägt die Augen auf und liest. Und im Vorgang des Entzifferns bildet sich ein erstes, noch unsicheres Begreifen. Das Kind ahnt, daß in der Ordnung dieser Zeichen etwas Vertrautes auszumachen ist und wiedererkannt werden kann. Suchend läßt es zu, daß Schrift und Vorstellung zusammenfallen. So liest es »Tor« und »Ton«. Es blinzelt, Buchstaben abgleichend, in den Einfallswinkel der Sprache. Doch stellt sich das Bild ein, ist es seiner Unsicherheit enthoben und glücklich angekommen.
In ihren schönsten Momenten ist Kindheit vielleicht ein immer wieder gelungenes Erwachen im Fremden. Ein kühnes Aufblicken, das sich Welt deutend erfindet. Zu meinen frühesten und abenteuerlichsten Erinnerungen gehört das katholische Hochamt,
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