Fluch der 100 Pforten
zerstört war? Dass die Wand eingestürzt sei? Und warum hatte Frank ihm geglaubt? Eigentlich hatte er es ihm gar nicht geglaubt. Nicht richtig jedenfalls.
Frank ließ sich zu Boden fallen und sah in den Himmel hinauf – in den Himmel seiner Kindheit. Er betrachtete die spitzen Tannen, dann nahm er eine Handvoll Erde. Er hob sie an seine Nase und roch daran. Sie roch wie er. Wie seine Arme, wie sein Bett, so, wie er wirklich war. Er bestand aus dieser Substanz.
Er kniff die Lippen zusammen. Seine Augen brannten. Er wischte mit dem Handrücken darüber, blinzelte und sah zu den Bergen. Jenseits dieser Berge lag das Meer. Jenseits der Berge würde er die Gräber seiner Väter finden. Und vielleicht auch das seiner Mutter und seiner Brüder. Lange genug hatte er sich vorgemacht, dass es dort nichts mehr zu finden gebe. Er nieste noch einmal, dann schniefte er.
Dotty sah ihn an. »Frank?«, fragte sie. »Stimmt etwas nicht?«
Frank lächelte nur und stand auf.
»Frank?«
»Ich weiß, wo wir sind«, sagte er.
Henriettas Kopf sank langsam auf ihre Brust und sie zuckte zusammen. Die Äste unter ihr schwankten. Sie konnte auf diesem Baum einfach nicht schlafen. Aber Eli hatte nicht zulassen
wollen, dass sie sich auf den Boden legte. Er sagte, sie würde sich danach nur schlechter fühlen und ihr Leben würde kürzer, je länger sie schlief. Daher hatte er sie auf den ältesten und dicksten Baum gescheucht, den er nur finden konnte. Und jetzt war er weg.
Ihre Füße hatten entsetzlich wehgetan, aber mittlerweile waren ihre Beine eingeschlafen und sie spürte sie nicht mehr. Ihren Rücken hingegen spürte sie durchaus. Er lehnte an der harten Baumrinde. Ihr Ellenbogen tat ihr ebenfalls so weh, dass sie dachte, er fiele gleich ab.
»Eli!«, rief sie.
»Was ist?«
Die Stimme erklang von oben, aus der Baumkrone. Den Sack über der Schulter, kam der alte Eli durch die Blätter geklettert und ließ sich auf ihrem Ast nieder.
»Ich kann hier oben nicht schlafen«, sagte Henrietta. »Ich muss runter.«
»Du hast gerade eine ganze Stunde geschlafen.«
Henrietta setzte sich ein Stück auf und ließ ihre Beine herabbaumeln. Sie freute sich nicht gerade auf das Stechen wie von tausend Nadeln, wenn sie wieder aufwachten. »Wann bist du zurückgekommen?«, wollte sie wissen. Im selben Moment merkte sie, dass sie zum ersten Mal »Du« zu Eli gesagt hatte. Das schien ihr auch angemessen. Nicht unbedingt, weil er sie gezwungen hatte, auf einem Baum zu schlafen. Sondern vielmehr, weil er sich als ihr Helfer und damit irgendwie als ihr Vertrauter betrachtete.
Er schien sich auch nicht daran zu stören. »Vor einer Stunde«, sagte er. »Du hast ganz schön geschnarcht.«
Henrietta funkelte ihn wütend an. »Habe ich nicht. Wo bist du gewesen?«
Eli holte tief Luft und gähnte. »Ich habe Kopf und Kragen riskiert. Und es hat nicht mal viel genützt. Wir müssen diese Berge überwinden und dann auch noch den nächsten Gebirgskamm. Danach kannst du dich wieder ausruhen.«
»Ist das dein Ernst?« Henrietta schloss die Augen und ließ den Kopf sinken. »Du hast gesagt, alles wäre in Ordnung. Wir wären schon so gut wie in Sicherheit.« Sie seufzte.
Eli kaute auf seiner Unterlippe herum. Dadurch bewegte sich sein Bart. Auf dem Kopf hatte er einen leichten Sonnenbrand.
»Ich habe mich getäuscht«, sagte er. »Wir müssen weiter. Und zwar schnell.«
Er rutschte von seinem Ast, umfasste einen anderen, der etwas niedriger lag, und ließ sich gut zweieinhalb Meter auf den Boden hinabfallen.
»Wie weit sind wir denn schon gelaufen?«, fragte Henrietta. Sie reckte ihre tauben Beine vorsichtig dem nächsten Ast entgegen.
Eli grunzte. »Spielt das eine Rolle?«
»Ja. Ich will es wissen.«
»Warum?«, fragte Eli. »Damit du dich in deinem Unglück suhlen kannst? Vor dir ist noch niemand eine ganze Nacht hindurch gelaufen. Du bist die Allererste!«
Henrietta hängte sich an einen Ast und ließ sich dann fallen. Ein Schmerz schoss von ihren Fußsohlen bis in die Schienbeine hinauf. Sie hüpfte ein paar Mal auf und nieder, dann ließ sie sich fallen, um sie zu reiben.
Eli lachte.
Henrietta sah ihn an und rümpfte die Nase. »Außerdem komme ich um vor Hunger. Ich könnte auf der Stelle sterben.«
»Stimmt. Könntest du bestimmt. Warum versuchst es nicht einfach mal? Ich komme in ein paar Jahren wieder und sehe nach, was von dir übrig ist. Und was das Essen betrifft: Ich habe dir doch etwas zu essen gegeben, bevor wir
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