Fluch der 100 Pforten
vorüberziehenden Lüftchen unterscheiden. Es war ein ganz eigener Ort und der Wind hatte sein ganz eigenes Aroma. Die hängende Tür wehte auf und zu, und Henry atmete tief ein. Dabei kam er zu einer Erkenntnis: Die Faeren hatten die Rückseite des Faches verschlossen, nachdem sie ihre Warnung zugestellt hatten! Er hatte nichts mehr riechen können. Kein Lüftchen hatte sich geregt.
»Moment mal«, sagte Henry laut. Er legte die Notizbücher auf seinen Rucksack und kniete sich an das Fußende seines Bettes. Wasser sickerte aus der Matratze und in seine Jeans. Henry öffnete die Tür ganz und tastete im Fach umher. Er fühlte Holzsplitter und als sein Finger die Rückseite berührte, strichen seine Finger plötzlich durch Erde und Moos.
Das Fach war wieder offen!
Henry hatte keine Ahnung, warum das so war, aber es war ihm auch egal. Dies war der Ort, an den er wollte. Und wenn es keine Möglichkeit gab, von der Insel wegzukommen, konnte er immer noch umkehren und einen anderen Weg ausprobieren. Auch wenn er herausfinden sollte, dass es in dieser Welt keine Deiranische Küste gab – wie er es herausfinden
konnte, wusste er noch nicht -, würde er zurückkommen und etwas anderes versuchen.
Henry blätterte durch das zweite Notizbuch, bis er die Kombination für Badon Hill gefunden hatte. Dann stellte er die Kompass-Schlösser ein, schnappte sich seinen Rucksack, eilte die Dachbodentreppe hinunter und über den Flur der ersten Etage. Mit raschen Schritten nahm er auch die nächste Treppe, durchquerte die Pilz-Kultur, legte seinen Rucksack auf dem Esstisch ab und lief in die Küche, um sich einen Stift zu holen. Er hatte eigentlich in der Kramschublade danach suchen wollen, aber es lag schon einer auf der Anrichte. Er nahm ihn und ging damit zu Franks Nachricht. Dann schrieb er seine eigene Notiz an den oberen Rand des Zettels.
Henrietta,
ich habe dir zwei Dosen Thunfisch übrig gelassen. Als ich ankam, war die Kompass-Tür zu und die Knöpfe waren verstellt. Ich versuche es zuerst mal mit Badon Hill.
Henry
PS: Ich drück dir die Daumen!
Er las seine Nachricht noch mal durch und überlegte, ob er noch etwas hinzufügen sollte. Zum Beispiel »Alles Liebe – dein Henry«? Nein. Aber der Gedanke war ihm schon gekommen. Er sah noch einmal ganz genau im Notizbuch nach, dann schrieb er unter seine Nachricht die Kombination für Badon Hill und malte einen Kringel darum.
Das würde wohl reichen.
Jetzt war es Zeit, den Rucksack zu packen. Die Taschenlampe wanderte zuerst hinein. Dann knautschte er einige Paar Socken, etwas Unterwäsche, ein graues Kapuzenshirt und ein T-Shirt mit langen Ärmeln dazu. Die zweite Thunfischdose passte auch noch irgendwo hinein. Henry hatte keine Ahnung, wo sein Taschenmesser war und er hatte auch keine Lust, danach zu suchen. Daher nahm er ein altmodisches Steakmesser mit abgerundeter Klinge und Plastikgriff aus einer Schublade, wickelte ein Küchentuch fest darum und schob es zwischen seine Klamotten. Die Notizbücher schnürte er wieder mit den Gummiringen zusammen, packte sie in eine wasserdicht verschließbare Plastiktüte und legte sie auf alles andere oben drauf. Dann zog er den Reißverschluss zu.
Es war ein komisches Gefühl, die Treppe hinaufzusteigen und zu wissen, dass er dieses Haus vielleicht niemals wiedersehen würde. Er hatte hier viel erlebt. Und er hatte sich hier verändert. Wenn auch nicht so sehr wie das Haus selbst.
Auf dem Flur hielt er kurz inne, doch dann wandte er sich entschlossen seinem Ziel zu. In seinem Magen wollte sich ein Knoten bilden und fest werden, aber er versuchte gleichmäßig zu atmen und sich darauf zu konzentrieren, was er gerade tat − und nicht auf das, was dadurch passieren könnte.
Großvaters Zimmer roch gut. Der Wind, der durch die eingeschlagenen Fenster wehte, mischte sich mit der Brise aus dem Schrank. Henry blieb stehen und ließ die Mischung ein wenig auf sich wirken. Er blickte hinaus auf den Polizeiwagen und sah sich dann in Großvaters Zimmer um; in dem Raum,
der lange Zeit so geheimnisvoll gewesen war. Als er vor dem Schrank in die Knie ging, schlug ihm die Brise aus dem Fach entgegen und erfüllte ihn mit einem seltsamen Schmerz, mit einer Sehnsucht nach etwas, das er nicht kannte, das er aber haben konnte. Es war, als hätte man Hunger, ohne zu wissen, dass es überhaupt Nahrung gab. Oder als hätte man Durst, ohne jemals von Wasser gehört zu haben.
Henry wünschte, dass ihm jemand sagte, alles würde gut werden und er
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