Fluch der 100 Pforten
hättest … also, zumindest hättest du versuchen sollen, das Tor zu schließen.« Sie betrachtete Elis Rücken. »Wenn wirklich alles da herauskommt.«
»Ich schätze deinen weisen Rat«, antwortete Eli. Er wandte sich um und ließ sie näher kommen. »Wenn meine Schwester, Herrscherin über alles, was lebt, mich nun dafür verantwortlich macht, was jetzt mit ihrem kleinen Gärtlein und ihrer Ziege passiert – sofern sie es überlebt -, wirst du ihr bestimmt meine Schuld bestätigen. ›Oh, Königin! Ich habe ihm gesagt, er soll einfach die Tür zumachen. Dann wäre alles in Ordnung gewesen.‹«
»Du brauchst gar nicht so gehässig sein!«, erwiderte Henrietta. »Ich hätte dir ja helfen können.«
Eli legte überrascht seinen Kopf auf die Seite. »Und wie hättest du das anstellen wollen?«
»Keine Ahnung. Wir hätten einen großen Stein vor die Höhle rollen können oder so.«
Eli lachte schallend. Es war zwar kein gemeines Lachen, trotzdem war es irgendwie herablassend und gefiel Henrietta nicht.
»Vielen Dank für das Angebot«, sagte er. »Aber das hätte auch nichts genützt. Selbst wenn wir es beide überlebt hätten. Der Sog kommt nicht von dem Tor selbst. Sondern er stammt aus dem hohen Norden und wird durch das Tor gebündelt. Es verschließen zu wollen, wäre sinnlose Zeitvergeudung. Falls es uns überhaupt gelingen würde. Was undenkbar ist.«
Henrietta blieb neben ihm stehen, stemmte ihre Hände in die Seiten und versuchte zu Atem zu kommen. Eli lächelte, wandte sich wieder dem Hang zu und stieg weiter bergan.
Henrietta japste und folgte ihm. »Und was ist aus den Zauberern geworden?«
»Weißt du was?«, gab Eli zurück. »Das hier fiele dir viel leichter, wenn du dich auf deine Atmung konzentrieren würdest.«
»Ich fühle mich kein bisschen müde«, antwortete Henrietta.
»Lügnerin! Gerade wolltest du dich noch auf den Boden legen und sterben. Weil dein Leben so unerträglich ist. Weil du lange aufbleiben musst und kein Frühstück bekommst.«
»Was ist aus den Zauberern geworden?«
»Ich werde es dir sagen«, sagte Eli, »wenn du vor mir auf dem Felskamm bist. Wir sollten uns wirklich ein bisschen mehr beeilen.«
Henrietta hielt den Atem an und begann mit weit ausholenden, schmerzvollen Schritten zu laufen. Ihre Fußknochen fühlten sich an, als wollten sie gleich aus dem Fleisch springen. Sie überholte Eli und grinste ihn an.
»Sei doch nicht so albern«, sagte er. »Du sollst einfach nur etwas schneller gehen. Versuch eine Geschwindigkeit zu finden, die du durchhalten kannst.«
Henrietta lief aber weiter. Sie hatte Eli lange genug die Führung überlassen. Und sie hatte sich zuviel beklagt. Sie bekam Seitenstechen, zuerst auf der rechten Seite und dann auch auf der linken. In der Mitte ihres Bauches trafen sich die beiden Stiche und schlossen sich zusammen. Zwischen den Bäumen auf dem Bergkamm konnte Henrietta einen großen
Felsvorsprung ausmachen und sie beschloss, ihn zu erklimmen. Dort wollte sie Eli erwarten, wenn er hinaufkam.
Ihre Beine taten höllisch weh. Sie waren schwer, lahm und wollten nicht mehr. Und ihre Lunge hätte sich am liebsten nach außen gestülpt. Jede Faser ihres Körpers sehnte sich danach, stehen zu bleiben – aber ihr Ehrgeiz ließ es nicht zu. Am liebsten hätte sie einen anderen Körper gehabt. Einen mit Flügeln. Sie ging ein bisschen langsamer, erlaubte sich aber nicht, stehen zu bleiben. Nur noch fünfzig Schritte. Beinahe wäre sie über einen Stein gestolpert, aber sie fing sich wieder. Ein Zweig griff ihr in die Haare und klammerte sich an einer Strähne fest. Sie schloss die Augen und lief weiter, ohne auf die Kratzer zu achten, die sie an den Armen und im Gesicht davontrug. Sie schob sich durch dichte Zweige und trat auf niedriges Gestrüpp und herumliegende Baumstämme. Und dann lachte sie.
Sie hatte den Felsvorsprung erreicht. Die raue Abbruchkante an der Vorderseite wies ins Tal hinab. An seinem rückwärtigen Ende aber ging der Felsvorsprung sanft in den Gipfelkamm über. An den Stellen, wo der Stein nicht von trockenen Flechten überzogen war, hatte er eine hellgraue Farbe. Seine Seiten waren schroff und zerklüftet. Selbst mit Henriettas gummiweichen Beinen konnte es nicht allzu schwierig sein, ihn zu ersteigen. Sie kletterte hinauf und lief bis an den Rand der Felsnase. Ein Teppich aus Straucheichen breitete sich vor ihr aus und erstreckte sich den ganzen Berg hinab bis ins Tal. Weit in der Ferne, hinter ein paar wesentlich
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