Fluch der Engel: Roman (German Edition)
erwies sich als wesentlich größer, als mir im Moment lieb war. Nach meinen erfolglosen Versuchen, meine Flügel zum Oszillieren zu bringen, bugsierte er mich in eines der Zimmer im Nebentrakt, um mit dem Weben von Engelsmagie weiterzumachen. Obgleich ich lieber auf dem Balkon geblieben wäre, spielte ich die brave Schülerin. Sowohl die körperliche als auch die geistige Anstrengung taten mir gut: Sie lenkten mich ab von meinen düsteren Gedanken.
Als die Sonne sich verabschiedete, beendete Paul mein ergebnisloses Waffenweben. Ernüchtert ließ er sich von mir zum Frische-Luft-Schnappen zurück auf die Galerie der Basilika schleppen. Ein lauer Nachtwind vertrieb die Hitze des Sommertags. Er blies vom Meer herüber, aus der Richtung, wo Sanctifers Insel lag – dort, wo Christopher war.
Zu glauben, dass ich Christopher aus Sanctifers Palast befreien könnte, erschien mir plötzlich utopisch. Einen Schatten aus Sanctifers Unterwelt zu entführen würde selbst Aron überfordern. Dazu benötigte man einen mächtigen Engel: einen Racheengel wie Nagual.
Ich vertrieb das Bild des goldenen Racheengels, der auf dem Dach der Basilika gegen Christopher kämpfte. Dass die beiden sich nicht gerade mochten, zerstörte meine Hoffnung auf Hilfe.
Der Umriss einer dunklen Gestalt, die über die Piazzetta Richtung Basilika huschte, erregte meine Aufmerksamkeit. Mein Herz geriet ins Stolpern. Gierig sog ich den Geruch ein, den der Wind zu mir heraufwehte. Salzige Meeresluft, durchzogen mit einer Prise wilder Kräuter. Ein Hauch von Arons Engelsduft, würzig und angenehm, doch nicht der, den ich erhofft hatte.
Verzweifelt schloss ich die Augen. Nur meinetwegen war Christopher bei Sanctifer. Wäre ich nicht geflohen, dann wäre er noch in Sicherheit. Doch im Grunde meines Herzens wusste ich, dass das nicht stimmte. Christopher hätte gespürt, wenn ich zu einem Schatten geworden wäre – so, wie er es gespürt hatte, als in der Krypta meine Flügel in Flammen aufgingen. Christopher war an mich gebunden. Er konnte meine Gefühle wahrnehmen, falls ich sie ihm nicht vorenthielt – oder nicht stark genug war, mich ihm zu verschließen. Vielleicht war es gut, dass er mir nicht erlaubt hatte, das Bündnis zu erwidern.
Meine Gedanken führten mich in Sanctifers Unterwelt. Zu seinen dunklen Engeln und dem Verlies, in das sie mich gesteckt hatten. Hielt er auch Christopher dort gefangen? Um ihm seinen Schatten aufzuzwingen? Oder war er schon eines seiner dämonischen Monster?
Schwere Tränen sammelten sich in meinen Augen. Engelstränen. Gut, dass Paul sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte.
Ein Hauch von Sommergewitter berührte mich. Er kam nicht mit dem Wind, sondern streifte durch meine Erinnerungen. Eisige Nebeltröpfchen streckten ihre Fühler nach mir aus. Ich war mir so sicher, dass Christopher mich in diesem Augenblick erreichen wollte, dass ich mich nicht gegen die Kälte verschloss, sondern meine Gedanken öffnete. Schon einmal war es Christopher gelungen, mich seine Empfindungen spüren zu lassen.
Doch dieses Mal war es anders. Heimtückisch, bösartig. Dunkle Gefühle erwachten in mir. Ich drängte sie zurück. Doch der Schmerz, der mich erreichte, war zu real, um ihn zu ignorieren. Tausend Stiche malträtierten meine Engelseele. Ich versuchte, siezu schützen, doch es war zu spät. Die Eiseskälte war schon zu weit vorgedrungen. Hass und ein dunkles Verlangen erwachten in mir.
»Hol Aron!«, presste ich zwischen zwei Atemzügen hervor. Ich hatte Angst, Paul etwas anzutun, falls er blieb. Doch anstatt zu gehen, packte er mich an den Schultern und drehte mich zu sich um.
»Lynn, was ist los mit …« Paul erstarrte, als er meine schreckgeweiteten Augen erblickte.
»Bitte geh!«, zischte ich und schlang meine Hände um das steinerne Balkongeländer, als eine neue Welle aus Schmerz und Verzweiflung durch meinen Körper rollte.
Paul ließ mich los. Offenbar hatte er endlich erkannt, wogegen ich ankämpfte. Doch anstatt Aron zu suchen, blieb er und begann, beruhigend auf mich einzureden. Im Gegensatz zu mir spürte er anscheinend nichts von dem dunklen Sog, der mich zu verschlingen drohte. Erst mein Schrei ließ ihn zusammenzucken. Es war kein Knurren, das meiner Kehle entwich, sondern das Echo einer gequälten Seele. Doch es war nicht meine Engelseele, die gefoltert wurde.
Ich fühlte den Schmerz mit einer Deutlichkeit, als wäre es mein eigener. Keuchend sackte ich zu Boden. Zornestränen strömten über mein Gesicht.
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