Fluch der Engel: Roman (German Edition)
im Übermaß bewusst, schwebte Nagual in mein Zelle. Ich schaffte es gerade noch, von der Holzpritsche zu springen, um ihm nicht gar so hilflos ausgeliefert zu sein – er sah das anders und umklammerte meine Schultern wie ein Schraubstock.
»Zeig mir deine Flügel«, herrschte er mich an. Dagegen war der Befehl der Dogin ein unterwürfiges Winseln. Blöderweise stachelte das meinen Widerstand an.
»Warum?«, fragte ich aufmüpfig.
»Weil ich dein wahres Wesen sehen will.«
»Hat dich die Dogin geschickt?« War er die Vorhut, um mich weichzuklopfen?
»Nein«, erwiderte Nagual, während er mich weiter fixierte. »Deine Flügel! Los, zeig sie mir! Geduld gehört nicht zu meinen Stärken.«
»Zu meinen auch nicht. Weshalb willst du sie sehen?« Um sie mir zu nehmen, schien mir eine passende Antwort.
Helle Sprenkel blitzten in den Augen des Racheengels auf. Meine Halsstarrigkeit ärgerte ihn. Ich hielt seinem Blick stand – ich war Christophers Blick gewohnt. Schließlich schüttelte Nagual den Kopf und ließ mich los.
»Du bist ein wahrer Sturkopf. Wenn ich gewusst hätte, dass du in diesem Loch vermodern willst, hätte ich mir den Weg sparen können.«
Hatte ich das richtig verstanden? Nagual wollte mich hier rausholen?
»Nein, ich …« Der Racheengel ließ mich nicht ausreden.
»Dein Tutor besitzt die Fähigkeit, mit Engelszungen zu reden. Er hat mir erklärt, wie du zu ihm und Christopher stehst, und mich zu dir geschickt, weil er glaubt, du könntest hier unter schlechten Einfluss geraten. Aber bevor ich dich mitnehme, will ich mich davon überzeugen, ob es besser ist, deinem Engelleben ein schnelles Ende zu bereiten, als dich mit in die Basilika zu nehmen. Schließlich bist du ein Racheengel und hast ein Recht darauf, dort und nicht hier festgehalten zu werden, solange du noch nicht verurteilt bist.«
Ich schnappte nach Luft. Nagual war bereit, mich zu retten – oder zu töten.
»Was … was muss ich tun?«, stammelte ich.
»Mir deine Flügel zeigen. Habe ich vergessen, das zu erwähnen?« Naguals Sarkasmus brachte die Luft zwischen uns zum Vibrieren.
»Und … wenn es die falschen sind?«
»Dann werden es nicht mehr lange deine sein«, bestätigte er meine Befürchtung, was er vorhatte, falls ich Monsterflügel besaß.
Ich nickte und heuchelte Entschlossenheit. Darauf konnte ich mich einlassen. Ich wusste, was ich war.
Als das Licht meiner Schwingen das Verlies mit einem tiefroten Glühen erhellte, zog ein ungläubiges Staunen über Naguals Gesicht. Allerdings betrachtete er nicht meine Flügel, sondern meine Augen – als könne er darin mein Wesen erkennen.
»Du bist wahrhaftig anders. Ein Schimmern umgibt deine Seele, das ich noch nie bei einem Racheengel gesehen habe. Wäre deine dämonische Seite nicht so stark, würde ich dich für einen entarteten Engel halten.«
Einen entarteten Engel?! Ich schluckte. War ich durchgefallen? Würde er mich jetzt töten? Erschrocken wich ich vor Nagual zurück. Er packte meinen Arm und grinste.
»Falsche Richtung, kleiner Engel. Du kommst mit mir !«
Kapitel 26
Gewitterhauch
M ein Zittern ließ erst nach, als ich Aron in der Markusbasilika entdeckte. Nagual flößte mir gleichermaßen Angst wie Respekt ein. Dass ich mich hinter Aron versteckte, entsprach sicher nicht dem Bild eines Racheengels, aber im Moment war mir ziemlich egal, was Nagual von mir dachte.
»Besonders mutig scheint sie nicht zu sein«, kommentierte Goldauge meine Flucht zu Aron.
»Du unterschätzt sie. Lynns Stärke liegt nicht in ihrer Unverfrorenheit, sondern in ihrem Herzen.«
Nagual nickte. »Vermutlich hast du recht. Aber ich habe mich um wichtigere Dinge zu kümmern – falls das mit den seelenlosen Engeln stimmt.«
»Es ist wahr. Ich habe gesehen, wie Sanctifer einen von ihnen erschaffen hat«, mischte ich mich ein.
»Und? Wie hast du dich dabei gefühlt?« Nagual umklammerte meine Schultern. In seinen Augen leuchtete ein diabolisches Schimmern.
Ich versuchte, ihm standzuhalten. Naguals Honig-Muskat-Duft hüllte mich ein. Zarter Eisnebel legte sich auf meine Stirn. Die Erinnerung an das grausame Ritual verschwamm und wurde zur Wirklichkeit – und ich ließ zu, dass Nagual sah, was ich gesehen hatte.
Ich war wieder in Sanctifers Palast, beobachtete, wie Massimo seine Seele verlor, und wünschte mir nichts sehnlicher, als Sanctifers Platz einzunehmen. Gieriges Verlangen überschwemmte meinen Körper. Meine dämonische Seite gewann an Stärke, versprach mir
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