Fluch der Engel: Roman (German Edition)
unbezwingbare Macht. Was war die Seele eines gewöhnlichen Engels schon wert?
Arons Stimme erreichte mich. Sein Bild war verschwommen, dennoch konnte ich seine Gegenwart deutlich spüren. Auch er besaß die Seele eines Engels – er, Paul, Susan und all die anderen, die ich im Schloss der Engel kennengelernt hatte.
Übelkeit stieg in mir auf. Würde ich auch einen von ihnen opfern? Um Christopher zu retten? Oder wegen der damit verbundenen Macht? Meine Engelseele weigerte sich weiterzudenken, doch meine dunkle Seite wusste, wozu ich fähig war.
Mir wurde eisig kalt. Meine innere Zerrissenheit forderte ihren Tribut. Nagual ließ mich los. An seiner Stelle legte Aron einen Arm um meine Schultern. Ich war dankbar, Schutz bei ihm zu finden.
»Sorge dafür, dass sie in der Basilika bleibt, wenn du nicht willst, dass ich sie unten einsperre. Und pass auf, dass sie keine Dummheiten macht – bereit und in der Lage dazu wäre sie. Christopher hat die richtige Wahl getroffen, sie zu einem Racheengel zu machen.« Naguals scharfzüngige Bemerkung verstärkte die Kälte in mir, was auch sein Nachsatz nicht lindern konnte.
Aron brachte mich in einen Raum im Nebentrakt der Basilika, wo ich mich ausruhen sollte.
»Du wirst ihn wiedersehen, hab Vertrauen – in mich und in Christopher«, bat er.
Christophers Bild tauchte in meinem Kopf auf. Er stand an der Seite der Dogin.
»Ist es wahr, dass die Dogin ihre Macht aus dem Erschaffen dunkler Engel zieht? Und dass … dass ein Racheengel ihr dabei hilft?« Aron wusste genau, von welchem Racheengel ich sprach. Er zog sich einen Stuhl neben die Schlafcouch, auf der ich saß, und setzte sich mir gegenüber.
»Coelestin hat ihn davor gewarnt. Doch die Dogin und ihre Versprechungen waren für einen jungen Racheengel wie Christopher sehr verlockend.«
»Er … und die Dogin waren ein Paar?«
Aron nahm meine Hände. Er spürte, dass ich Halt brauchte.
»Nein. Auf dieses Angebot ist Christopher nicht eingegangen. Ihn reizte die Macht, die dunklen Engel zu kontrollieren. Doch er spürte schnell, dass es falsch war, selbst einem entarteten Engel die Seele zu rauben und ihm ein Leben aufzuzwingen, das er niemals gewählt hätte.«
Erneut erschienen Bilder von Christopher und der Dogin in meinen Gedanken. Dieses Mal kniete ein Engel zu ihren Füßen, und Christopher stand kurz davor, ihn in ein Monster zu verwandeln.
»Lynn, Christopher musste viel durchmachen. Lange Zeit war sein einziges Ziel, mächtig genug zu werden, um Sanctifer widerstehen zu können. Doch diesen Christopher gibt es nicht mehr. Dank dir weiß er, dass es Wertvolleres gibt, für das es sich lohnt, zu kämpfen.«
Aron ließ mich allein. Er wollte, dass ich ein wenig Schlaf nachholte. Ich versuchte es erst gar nicht. Meine Überlegungen, wie ich Christopher helfen konnte, und mein Entsetzen darüber, wozu ich fähig war, hätten mich sowieso wachgehalten.
Ich beschloss, dem Balkon der Basilika einen Besuch abzustatten. Schließlich durfte ich mich im oberirdischen Teil der Kirche frei bewegen. Doch kaum dass ich aus meinem Zimmer trat, passte Paul mich ab. Aron hatte ihm mal wieder die Rolle des Bodyguards zugewiesen, weshalb ihm nichts anderes übrigblieb, als mich zu begleiten. Doch irgendwann riss Paul der Geduldfaden.
»Dein ständiges Hin-und-her-Gerenne geht mir langsam auf die Nerven. Du scheinst dringend eine Aufgabe zu brauchen, die dich auslastet.«
»Und das wäre?«, fragte ich, ohne meinen Blick abzuwenden. Die umlaufende Galerie ermöglichte mir, sowohl den Markusplatz als auch den Vorplatz des Dogenpalastes zu überwachen. Naguals Versprechen, dass ich in der Basilika vor der Dogin und ihrem Rat in Sicherheit war, traute ich nicht.
»Lass mich überlegen«, begann Paul mit gespielter Unsicherheit, was ihm meine Aufmerksamkeit sicherte. Er hatte etwas ganzBestimmtes im Sinn, wie mir das Zucken seiner Mundwinkel verriet.
»Los, spuck’s schon aus, damit ich dir sagen kann, wie dämlich dein Vorschlag ist.«
»Du hältst also Fliegenlernen und Engelsmagieweben für dämlich?« Paul schenkte mir eines seiner nur für mich reservierten Lynn-Grinsen. »Lynn ist sprachlos! Was für ein seltener Anblick«, neckte er mich, weil ich ihn ungläubig anstarrte.
»Du willst mich unterrichten?«
»Warum nicht? Ich bin ein geprüfter Wächterengelanwärter, und in Anbetracht der Lage hast du Unterricht dringend nötig«, scherzte er, doch in Wahrheit meinte Paul es bitterernst.
Pauls Durchhaltevermögen
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