Fluch der Engel: Roman (German Edition)
bist?«
»Nein – und auch nicht, dass ich nicht besonders gut fliegen kann.«
»Dann wird es Zeit, das zu ändern«, antwortete Christopher, breitete seine Flügel aus und machte einen Schritt über die Kante. Auffordernd streckte er mir seine Hände entgegen. »Du weißt, was du tun musst, du bist schon einmal geflogen«, erinnerte er mich an meinen ersten und bislang einzigen Start in der Windmühle. Allerdings hatte er mich damals mehr oder weniger überrumpelt. Jetzt wollte er, dass ich einen Schritt nach vorn machte.
»Hast du kein Vertrauen zu mir?«, neckte Christopher mich. Wäre sein Lächeln nicht so voller Wärme gewesen, hätte ich ihn einfach stehenlassen und mich in die Hütte verkrümelt. Engel, die sich über meine Flugunfähigkeit lustig machten, gab es genug. Aber Christopher schenkte mir nicht nur ein Lächeln, sondern ließ mich auch an seinen Gefühlen teilhaben. So intensiv, als würden nicht seine, sondern meine Flügel oszillieren, spürte ich die Energie, mit der er sie zum Schwingen brachte.
Ich schloss die Augen und wagte den Schritt über die Kante. Christopher würde mich auffangen, falls ich versagte. Doch noch bevor ich den Boden unter den Füßen verlor, entfalteten sich meine scharlachroten Schwingen. Als wäre es das Natürlichste auf der Welt, nahmen sie die Schwingung von Christophers Flügeln auf und begannen selbst zu pulsieren.
Christophers Pupillen weiteten sich, als purpurfarbene Blitze durch sie hindurchzuckten. Der Blick, mit dem er mich betrachtete, überschwemmte nicht nur meinen Körper mit Glücksgefühlen, sondern auch meine Flügel.
Kurz bevor wir die Eremitage erreichten, spürte ich, wie Christophers Muskeln sich anspannten. Beunruhigt sah ich zur Einsiedelei hinüber.
Aron stand neben der Tür und erwartete uns. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, als wir vor ihm landeten. Ich wandte mich ab, damit er nicht sah, wie ich rot anlief – meine Flügel blitzten noch immer.
»Wie ich sehe, hast du Lynn auch ein wenig Ruhe gegönnt«, wandte er sich an Christopher. »Hoffentlich genügend.«
Arons Nachsatz ließ mich aufhorchen. Sein Grinsen war verschwunden. Stattdessen bildeten sich Querfalten auf seiner Stirn. Ich sah zu Christopher. Er wirkte alarmiert, und als ich seinem Blick folgte, erkannte ich auch, warum.
Während ich versucht hatte, meine Röte zu verbergen, hatte Aron ein zusammengerolltes Pergament hervorgeholt. Eine Nachricht der Dogin. Nur sie verwendete goldfarbene Siegel.
»Vermutlich verlangt sie nach deiner Gesellschaft«, sagte Aron und reichte mir das Schriftstück.
Ich reagierte nicht. Es war mir egal, dass sie der oberste Engel war. Ich würde nicht kommen. Bei meinem letzten Besuch hatte sie mich in ihr Privatverlies gesperrt.
»Soll ich ihn für dich öffnen?«, fragte Aron.
»Meinetwegen kannst du ihn ungelesen verbrennen. Ich werde ganz bestimmt nicht freiwillig zu ihr gehen.«
»Sie ist …«
»Ich weiß, wer sie ist«, fiel ich Aron ins Wort. »Aber bevor ich mich von ihr noch einmal einsperren lasse, gehe ich lieber in meine alte Welt zurück. Dann bleiben mir wenigstens noch ein paar Jahre in Freiheit.«
»Oder Stunden«, erinnerte mich Aron daran, wie mächtig die Dogin war. Sie würde nicht davor zurückschrecken, mein menschliches Dasein zu beenden.
»Vielleicht solltest du erst einmal nachsehen, was sie von dir will«, versuchte Christopher, mich zu beruhigen. »Danach kannst du immer noch entscheiden, was du tun wirst.«
Sein Vorschlag klang vernünftig. Dennoch zitterten meine Finger, als ich das Pergament entrollte. Christopher legte seine Hände auf meine Schultern, um mich zu beruhigen – und mitzulesen.
»Eine kluge Entscheidung, dich nicht nach Südamerika oder Asien zu schicken«, kommentierte er.
»Vermutlich weil sie wusste, dass du dich niemals damit abgefundenhättest, wenn sie so weit weg von dir wäre«, fiel Aron ihm ins Wort.
»Allerdings finde ich es noch ein wenig zu früh, einen so jungen Engel wie Lynn zur Hüterin Venedigs zu ernennen.« Das Unerfahren hatte Christopher zu einem Jung abgemildert – die andere Variante kannte ich von Aron.
Ich wusste nicht, ob ich lachen oder lieber weinen sollte. Die Dogin wollte mich nicht in ihr Verlies sperren, sondern übermorgen zum Racheengel Venedigs küren. Obwohl ich Venedig toll fand – zumindest so, wie es einmal ausgesehen hatte –, wäre ich gern ins Schloss der Engel zurückgekehrt.
Christopher spürte meine Unsicherheit und drehte mich
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