Fluch der Engel: Roman (German Edition)
missbrauchen. Wir sollen die Engelseele und nicht den Schatten in euch stärken.«
»Und warum wurde Sanctifer dann nicht bestraft? Oder reicht euer Rechtssystem dann doch nicht so weit, dem Wort eines Racheengels mehr als dem eines Engels zu glauben?«
Aron schwieg. Offenbar hatte ich einen wunden Punkt getroffen. Klar, wir konnten lügen. Und dass Sanctifer gerissen genug war, sich rauszureden, zählte wohl nicht.
»Pass auf meine Freunde und meine Eltern auf – und auf Christopher«, beschwor ich Aron.
»Das werde ich. Christopher ist bei Coelestin. Und deinen Freunden und Eltern stehen sehr erfahrene Schutzengel zur Seite. Und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dich zu beschützen.«
Aron zog eine hohle, zylinderförmige Silberkapsel aus seiner Hosentasche. Das Gefäß, in dem er den Zauber aufbewahrte, der mich vor einer Ohnmacht schützen sollte.
»Du musst ihre Existenz geheim halten.«
»Und wie?« Vielleicht hielt Aron Sanctifer für oberflächlich, ich tat das nicht. Mit Sicherheit würde er mich und meine Sachen kontrollieren lassen, bevor ich sein Refugium betreten durfte. Schließlich könnte ich ja eine dämonische Waffe einschmuggeln, um ihm die Kehle damit aufzuschlitzen.
Aron riss mich aus meinen Racheplänen. »Die Kapsel ist so gebaut, dass ständig ein wenig des Zaubers entweicht, solange du sie in dir trägst. Und weil der Bann eingeatmet werden muss …«
»Wirst du mir das Ding jetzt in die Nase stecken«, vollendete ich Arons Satz.
»Es gibt Schlimmeres«, sagte er mit Blick auf die Ringe an meinen Fingern, die meine Klauen zurückhielten. »Die Kapsel ist so konstruiert, dass du genügend Luft bekommst. An den Rest wirst du dich gewöhnen.« Genau wie an meine Spangen. Auch an sie hatte ich mich gewöhnt.
Das Platzieren der Kapsel war einfach und schmerzlos. Nachdem das silberne Material Körpertemperatur erreicht hatte, schmiegte es sich an meine Nasenwand wie eine zweite Haut. Schon nach ein paar Minuten spürte ich das Ding kaum noch.
Um mich ein wenig abzulenken, kochte Aron heiße Schokolade. Seine Hände zitterten, als er die Tassen auf dem Küchentisch abstellte.
»Aron, was ist los mit dir?«
»Nichts«, wich er mir aus.
»Tatsächlich? Und warum zittern dann deine Hände?«
»Weil es anstrengend war, eine so große Menge des Banns zu weben, der dich …«
Wir schreckten beide auf, als es an der Eingangstür klopfte. Aron bat mich, sitzen zu bleiben, während er öffnete. Ich folgte ihm. Schließlich galt der Besuch mir.
Wie erwartet war es Raffael, der gekommen war, um mich abzuholen. Ich begrüßte ihn mit einem distanzierten Lächeln. Er sollte nicht denken, dass ich Angst hatte.
»Bist du so weit, dass wir gehen können?«, erkundigte er sich höflich.
Ich nickte und verschwand in meinem Zimmer, um meine Tasche zu holen, obwohl ich am liebsten die Flucht ergriffen hätte. Aron fand mich im Badezimmer, wo ich mich am Waschbecken festklammerte.
»Es ist nur für ein Jahr«, versuchte er mich zu beruhigen. »Das ist nichts für einen Engel. Und danach bist du frei.«
»Oder ein Schatten«, flüsterte ich.
»Lynn, sieh mich an!« Aron löste meine Hände und drehte mich zu sich um. »Du wirst dich nicht in deinem Schatten verlieren. Deine Engelseele ist viel mächtiger als dein dämonisches Erbe.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil deine Liebe stärker ist als dein Hass. Halte dich an ihr fest, wenn du fürchtest, dich zu verlieren. Sie wird dich beschützen.«
Die Gondel, mit der Raffael mich zu Sanctifer brachte, hielt auf die vorgelagerte Insel mit den verfallenen Ruinen zu, die ich bereits kannte. Doch als wir dieses Mal den efeubewachsenen Torbogen passierten, fuhren wir nicht wieder nach Venedig zurück. Stattdessen hielt das Boot an einer verfallenen Kaimauer, wo Raffael mich bat, auszusteigen.
»Hier bist du also aufgewachsen«, beglückwünschte ich ihn und deutete auf das baufällige Gemäuer vor uns, das kaum noch als Gebäude zu erkennen war. »Vermutlich sieht es innen auch nicht viel besser aus – passt irgendwie zu dir.«
Raffael antwortete mit einem Lächeln. Offenbar hatte er sich ein dickeres Fell zugelegt. Mein bissiger Kommentar beeindruckte ihn jedenfalls nur wenig.
»Vielleicht solltest du mit deinem Urteil warten, bis du mehr als die äußere Hülle kennst«, antwortete er nur und bat mich, ihm zu folgen.
Wenig später passierten wir ein schief in den Angeln hängendes Eisentor. Meine Beine knickten ein, als
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