Fluch der Leidenschaft
nicht in seiner Nähe haben und befahl dem Abt, mich nach Frankreich zurückzuschicken. Der hatte keine andere Möglichkeit, als zu gehorchen.«
»Wie alt warst du damals?«
»Dreizehn. Ein schwieriges Alter. Ich war wütend über diese Ungerechtigkeit. Anstatt nach Frankreich zurückzukehren, machte ich mich auf nach Cleeve, um voll rechtschaffener Empörung meinen Vater zur Rede zu stellen.«
Imogen zuckte zusammen. »Oh Gott. Und was geschah dann?«
Er lächelte. »Genau das, was jeder mit einem Funken Verstand erwarten würde. Roger war nicht so ein Schuft wie Warbrick, aber ein durch und durch harter Bursche, ohne eine Spur von Mitgefühl. Als ich ihm entgegentrat, ließ er mich auspeitschen. Und als ich dann immer noch nicht den Mund hielt, warf er mich ins Verlies.«
Er sagte es ganz ruhig, doch Imogen spürte die Anspannung, die dabei in ihm aufkam. »Was erhoffte er sich davon?«
»Ich glaube, er wollte mich dort im wahrsten Sinn des Wortes verrotten und in Vergessenheit geraten lassen. Heute frage ich mich, ob er versuchte, das, was ich repräsentierte, zu vergessen. Er hatte nur einen anerkannten Sohn – den schwachen, heimtückischen Hugh. Auch Roger konnte heimtückisch sein, aber schwach war er nie. Seine zweite Gemahlin war unfruchtbar und kalt, aber ein früher Tod war bei ihr unwahrscheinlich. Er war kein glücklicher Mensch.«
»Tut er dir leid?«
»Nein.« Er sagte es geradeheraus, und danach folgte eine beredte Pause.
Imogen fragte sich, ob er sich nun, wo er im düsteren Zentrum seiner Geschichte angelangt war, in Schweigen hüllen würde. Sie hoffte, er würde weitererzählen, denn sie sammelte diese Ausschnitte seines Lebens in ihrem Herzen.
Er verlagerte sie ein wenig in seinen Armen und fuhr dann fort. »Meine Kindheit war nicht leicht, aber zu Hause und im Kloster wurde ich zumindest versorgt. Das Verlies … das Verlies war ein plötzlicher Abstieg in die Hölle.
Sie warfen mich hinunter – es ging zehn Fuß in die Tiefe, deshalb trug ich eine Verletzung davon. Es war wie ein Brunnen, nicht einmal breit genug, um meine Arme auszustrecken. Der Boden bestand aus Schmutz und feuchter Erde. Meine eigenen Exkremente verunreinigten ihn bald noch mehr. Ich glaubte, in diesem Gestank zu ersticken, aber das geschah nicht. Es war absolut finster, und ich wusste zwar, dass hoch über meinem Kopf die Öffnung war, aber ich hatte Angst, der Deckel würde heruntergedrückt und mich zerquetschen …«
Er schauderte. Imogen streichelte ihn zärtlich, wusste jedoch nichts zu sagen.
»Ich habe geweint. Geschrien. Um Gnade gewinselt. Ich war alles andere als tapfer.«
»Du warst dreizehn Jahre alt«, erinnerte sie ihn. »In dem Alter habe ich noch einen Aufstand gemacht, wenn ich mich nur in den Finger schnitt.«
»Aber als du dir mit vierzehn den Arm brachst, hast du das Schienen ausgehalten, ohne mit einer Wimper zu zucken.«
Sie blickte zu ihm hinauf. »Woher weißt du das?«
Sein Finger umrundete zärtlich ihr Kinn. »Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, möglichst viel über dich herauszufinden.«
Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Was stand für eine Absicht dahinter? »Der Arm schmerzte zu sehr, um einen Aufstand zu machen«, sagte sie. »Ergibt das Sinn?«
»Ja, und auch, dass du wusstest, dass man versuchte, dir zu helfen und dich zu heilen. Ich hingegen wusste, dass Roger mich tot sehen wollte.«
»Wie kam es, dass du nicht gestorben bist?«
Er zuckte die Achseln. »Die Leute dort beschlossen, mir zu essen zu geben. Alle hassten Roger und Hugh; ein Mann, den ich inzwischen kennengelernt hatte, sagte mir, sie hätten die Familienähnlichkeit erkannt und daher gewusst, dass ich Rogers leiblicher Sohn war. Sie wagten es zwar nicht, mich zu befreien – aus welchen Gründen auch immer –, aber sie haben mich durchgefüttert.«
»Gütiger Jesus. Wie lange warst du in dem Verlies?«
»Eine Ewigkeit. Ich hatte kein Zeitgefühl. Vermutlich war es etwas weniger als ein Monat. Schließlich verreiste Roger nach London, und nun befreiten sich mich und warfen einen Schweinekadaver hinunter für den Fall, dass Roger doch einmal nachsehen würde. Aber offenbar hat er das nie getan.« Sie spürte, wie er sich bewegte, als er fortfuhr. »Die Knochen lagen noch dort, als ich vor ein paar Monaten nachschaute.«
Diese Gefühllosigkeit bestürzte sie. »Er hat nie an den Sohn gedacht, den er zu einem langsamen Tod verdammte? Hat nie, nicht einmal nach ihm gesehen? In seinem Herzen
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