Fluch der Nacht: Roman
wissend, dass die Mikrobe ihr folgte und ihr weiterhin widerliche Dinge einflüsterte: Niemand wolle sie. Sie sei zu nichts zu gebrauchen. Der Leib, der sie barg, wehre sie ab und wäre zu allem bereit, um den Schmarotzer in sich loszuwerden. Geh!, flüsterte die Stimme. Befrei die Frau von dir! Sie hasst es, solch ein schwaches, jämmerliches, fremdes Ding in sich zu tragen. Kein Lebewesen, sondern ein Ding.
Ohne Vorwarnung durchfuhr Lara ein Schmerz, der wie eine glühend heiße Stange war, die sich durch ihre äußere Hülle hindurch in ihre Seele bohrte. Die Mikrobe war nahe genug an sie herangekommen, um sie mit einem einziehbaren Stachel anzugreifen. Lara sah, wie er wieder in dem chamäleonartigen Extremophil verschwand. Der Schmerz war unerträglich. Lara stolperte, und sogleich zerkratzten scharfe Stachel ihren Knöchel. Aus Angst, mit Massen von Parasiten infiziert zu werden, geriet sie fast in Panik. Nur der Quarz in ihrer Hand und der immer lauter werdende Gesang der Frauen hielten sie davon ab, ihre Erscheinungsform als Baby aufzugeben.
Sie bewegte sich schneller, und ihr Säuglingsgeschrei spornte die Mikrobe ganz offensichtlich zu noch boshafterem Vorgehen an. Die murmelnde Stimme fuhr unerbittlich fort, sie zu bedrängen: Gib auf! Geh weg! Der Körper, in dem du lebst, will dich nicht . Verzweiflung war ihr ständiger Begleiter, und nun wurde auch noch ihre Umgebung feindselig. Angriffe kamen in Form einer Armee von Antikörpern. Kleine Ketten schlugen auf sie ein, um sie aus dem Mutterleib hinauszutreiben. Lara merkte, dass der Stachel sie als zum Angriff freigegeben markiert hatte, und die Proteinketten peitschten nun um sie herum und durch sie hindurch.
Das war es, was Ravens Sohn und Savannahs Zwillingstöchtern widerfuhr.
Empört strebte Lara nach oben auf den Eingang zu, an dem das eine Reich mit dem anderen zusammentraf. Was immer es sie auch kosten mochte, sie würde der Köder sein und diesen scheußlichen Killer an die Oberfläche bringen, wo Natalya schon wartete.
Während sie sich den Weg nach oben bahnte, berührte sie etwas Heißes, Brennendes tief in ihrem Innersten. Es war, als kochte das Blut in ihren Adern. Der Stachel hatte ihr etwas injiziert, doch es war kein Parasit gewesen, sondern etwas, das eine Unverträglichkeit ihres Blutes mit dem ihres Wirtes bewirkte. Schon jetzt zerfielen Zellen und lösten Blutungen aus. Und die ganze Zeit flüsterte diese abscheuliche Stimme ihr ein, wie wertlos sie doch sei und wie unbedingt der Organismus ihres Wirtes sich von ihr befreien wolle. Wellen der Verzweiflung und der Trostlosigkeit überschwemmten sie in einem fort.
Ein anderes Geräusch begann, die Stimme zu übertönen, und gleichzeitig baute sich überall um sie herum ein furchtbarer Druck auf und zermürbte sie. Das Geräusch donnerte in ihren Ohren, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Das beruhigende Auf und Ab des Leben spendenden Fruchtwassers wechselte zu einem schnellen, harten Rhythmus, der in ihren Schläfen dröhnte und sich wie ein furchterregender Güterzug anhörte, der von allen Seiten auf sie zujagte.
Lara klammerte sich an die Melodie des Wiegenliedes und kämpfte sich weiter an der Wurzel zur Erdoberfläche hinauf. Sie zwang sich, die Fingerspitzen an den Quarz zu drücken, um die Realität nicht aus den Augen zu verlieren. Um die Mikrobe anzuspornen, weinte sie und trieb sie mit ihrem kindlichen Geschrei zur Raserei, damit der feindliche Organismus nicht bemerkte, dass sie in Wahrheit alles andere tat, als zu fliehen. Der Killer, der sich dem Sieg schon nahe wähnte, flößte ihr tiefe Niedergeschlagenheit ein – und er verstärkte seine Attacken noch.
Verängstigt richtete sie den Blick auf den Rauch und den Nebel, die sie, nur gerade eben außer Reichweite, umwaberten. Die Zeit schien sich zu verlangsamen, und Lara war, als watete sie durch Treibsand. Ihre Umgebung wurde zunehmend instabil. Kleine Erdbeben erschütterten Lara, ein enormer Druck senkte sich auf sie herab und ließ ihre Welt von allen Seiten schrumpfen. Überall um sie herum stieg Flüssigkeit an, bis Lara darin zu ertrinken glaubte. Eine Reihe von Erschütterungen durchlief den Baum vom Wipfel bis zu seinen Wurzeln tief im Boden.
Gerade als Lara dachte, sie würde es vielleicht nicht mehr hinausschaffen, war der kleine Frosch wieder da, schwamm neben ihr her und geleitete sie durch die zerfallenden Mauern. Heftige Druckwellen bestürmten sie. Risse öffneten sich um sie herum, und alles
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