Fluch der Nacht: Roman
bilden ließ, während die anderen karpatianischen Frauen einen engen Kreis um sie bildeten. Nun wurden dem rauchenden Salbei auf den heißen Steinen die Graszöpfe, verschiedene Kräuter und Harze hinzugefügt, sodass sich der Raum mit den Gerüchen der Natur erfüllte. Lara atmete tief ein und ließ ihre Nervosität von dem Duft davontragen.
Sie hatte die wichtigste Aufgabe vor sich, die sie vielleicht je erfüllen würde, obwohl sie ihrem Leben schon ein Ende hatte setzen wollen. Wenn es ihr gelungen wäre, wie viele Kinder wären dann vielleicht verloren gewesen? Lara hatte plötzlich das Gefühl, einzig dazu geboren worden zu sein, um diesen Moment zu erleben, um diese Reise anzutreten und die drei ungeborenen Kinder zu retten. Xavier hatte so viele Leben zerstört, und sie war fest entschlossen zu verhindern, dass er auch noch diese Frauen und Kinder nahm wie schon so viele andere vor ihnen.
Während sie die Finger an einem weißen, durchsichtigen Quarz rieb, um Klarheit und Konzentration zu erlangen, verdrängte sie alle anderen Gedanken, bis ihr Geist ein ruhiges Gewässer war, das sanft über seine Ufer plätscherte und bereit war, sich noch weiter auszudehnen.
Jetzt ganz ruhig, überprüfte sie ihre lange vergessenen Erinnerungen und fand die schwachen Spuren von Magie. Sie folgte dem Pfad, bis sie die Tür öffnen konnte, die sie brauchte. In ihren Adern floss zwar auch Drachensucher-Blut, aber in erster Linie war sie Magierin, denn ihre Mutter stammte von einer reinblütigen Magier-Linie ab. Die Mystikerin in ihr war stark, und alles, was sie von ihren Tanten gelernt hatte, war bereit, sie in ihrem instinktiven Handeln zu unterstützen, falls sie Hilfe brauchen sollte. Dieser unterirdische Raum, den die Frauen instinktiv für ihre Rituale ausgewählt hatten, war ein Ort der Macht, an dem die physische Welt mit dem spirituellen Reich verschmolz. Lara spürte die Energie, die sie durchdrang, hörte das rhythmische Geräusch der Trommel und den melodischen Gesang der Frauen, der sie immer tiefer in eine andere Sphäre trug.
Rauch ließ ihre Sicht verschwimmen. Lara atmete tief ein und sog die rauchgeschwängerte Luft in ihre Lungen, während sie ihre Seele auf die Reise schickte. Schließlich fand sie sich an der Grenze der beiden Welten wieder, denn der Raum, in dem sie so ruhig und gesammelt saß, war nur die erste Station ihrer Erinnerungsreise.
Als ihre Sicht sich klärte, konnte sie einen großen Baum mit einem Labyrinth von Wurzeln und einem Dschungel weitreichender Äste vor sich sehen. Dunstschwaden in allen Farben umwaberten die Äste, silbrig grüne Blätter raschelten, als wären sie lebendig, und flatterten in der leichten Brise. Der Wind war gerade stark genug, um den Dunst zu bewegen, aber nicht zu vertreiben, sodass Lara hin und wieder den dicken, verbogenen Baumstamm sehen konnte, der zum Himmel hinauf und unter die Erde führte.
Lara konzentrierte sich auf den Baum. Er sah ziemlich alt aus, und sein Holz war mehr grau als braun. Sie bemerkte ein paar dicke dunkle Knoten an dem Stamm, den Ästen und anderen Stellen, wo vielleicht einmal ein Ast abgebrochen war, aber ansonsten schien der Baum gesund zu sein. Durch das kühle, frische Gras unter ihren Füßen ging Lara weiter auf den Baum zu. Während sie über das Feld schritt, das immer größer zu werden schien, sprossen Blumen unter ihren nackten Füßen, als verstreute sie Samen auf dem fruchtbaren Boden. Je näher sie dem Baum kam, desto mehr Astlöcher entdeckte sie, und unter dem Baum, in einem Käfig aus Wurzeln, lagen tote Äste wie zerbrochene Körper in einem Massengrab.
Als sie sich dem Baum des Lebens näherte, hörte sie Rufe und Weinen und spürte feuchte Tropfen auf ihrem erhobenen Gesicht. Tränen regneten auf sie herab, Tränen von Frauen, die schon vor langer Zeit dahingegangen waren und Kind um Kind an den unbekannten Mörder verloren hatten. Die Tränen plätscherten auf den Boden, wo sie einen Bach bildeten, und jede Träne vermischte sich mit einer weiteren, bis der kleine Bach zu einem Fluss anschwoll.
Lara watete durch das ansteigende Wasser, um zu dem dicken Baumstamm zu gelangen und ihn aus der Nähe zu betrachten. Kleine, flache Zeichen waren in den Stamm gebrannt, in den Ästen wartete neues Leben – Ravens Sohn und Savannahs Zwillingstöchter. Ihre Seelen klammerten sich an die sich sanft wiegenden Äste über Lara. Sie konnte sehen, dass beide Äste hohl, geschwärzt und verkrümmt von irgendeiner
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