Fluch der Nacht: Roman
»Du bist nicht wie er. Du wirst nie so sein wie er.« Sie wiegte ihr kleines Mädchen in den Armen und versuchte, es zu beruhigen.
Razvan beugte sich vor und strich mit der Zunge über die Wunde, um sie zu verschließen. Nicolas wusste jedoch, dass mit dem heilenden Speichel irgendetwas nicht in Ordnung war und er das Fleisch weder betäuben noch vernünftig heilen konnte. Das war der Grund, warum das kleine Handgelenk mit Narben übersät war und sich für Lara jeder Biss so anfühlte, als würde sie mit Messern malträtiert!
»Beeil dich jetzt! Sie muss hier weg. Er wird jeden Moment kommen.«
Razvan rutschte ein wenig zur Seite, um ein Loch in dem Eis freizulegen. Wo es früher weiß oder bläulich gewesen war, war es jetzt rot mit rosa Kanten. Razvan hatte sein eigenes warmes Blut dazu benutzt, einen winzigen Tunnel in dem Eis unter ihm freizulegen.
Shauna zog das Kind leise schluchzend an sich und drückte es noch einmal fest. Dann stieß sie die Kleine abrupt in den engen Tunnel und gab ihr einen Stoß. »Geh! Schnell. Folg dem Wasser nach draußen!«
Das Eis drückte auf den schmalen Körper und zerkratzte seine zarte Haut. Nicolas spürte die Schürfwunden an Händen und Knien und die heißen Tränen im Gesicht, als er nach vorne rutschte. Sich umzudrehen war nicht möglich. Als er rückwärts kriechen wollte, statt in diesen engen, dunklen Gang mit dem starken Blutgeruch, wurde sein Körper nur noch fester eingeklemmt. Panik erfasste ihn. Nicolas versuchte, kleiner zu werden, um aus dem Tunnel herauszukommen. Das Eis lastete schwer auf seinem Rücken, und über ihm und überall um ihn herum ächzte es Unheil verkündend, weil der starke Druck die Wände ununterbrochen veränderte.
Außerdem bekamen seine Lungen nicht genügend Luft. Sein Kopf dröhnte schon vom Sauerstoffmangel, und er fürchtete zu ersticken. Er wusste, dass Lara ganz genauso reagierte wie er und konnte es nicht fassen, dass er außerstande war, ihr zu helfen. Er empfand überwältigende Zärtlichkeit für Lara, die Erwachsene, die als Kind derart gelitten hatte, und Wut und Enttäuschung über sich selbst und seine Unfähigkeit, sie vor dem erneuten Durchleben dieser Gräuel zu beschützen. Nicolas schlug gegen das Eis und versuchte, es mit purer Willenskraft zu brechen, um sie zu befreien, aber es gab kein Entkommen aus dem engen Raum. Er schlug sich nur die Fäuste blutig.
Zum ersten Mal in seinem Leben lernte er Platzangst kennen. Er war hier unten gefangen, und es gab keinen Ausweg. Seine enorme Kraft bewirkte nichts. Kein Zauberspruch erlöste ihn. Er konnte keine Energie weben und sie benutzen. Egal wie sehr er sich bemühte, mit purer Kraft das Eis zu zerschlagen und auszubrechen, befand er sich doch in dem Körper eines dreijährigen Mädchens, das seine Macht und Fähigkeiten nicht besaß. Es war unmöglich, hier herauszukommen.
Laras Geist regte sich. So fest, wie sie miteinander verschmolzen waren, ließ sich fast nicht sagen, wo der eine begann und der andere aufhörte. Ihre Seelen waren inniglich miteinander verbunden. Geh!, flüsterte sie mit schwacher Stimme. Du brauchst das hier nicht mitzumachen. Ich habe es schon einmal überlebt und werde es auch diesmal überleben.
Nicolas war nicht sicher, dass das stimmte. Sie war kaum noch am Leben, und außerdem kam es für ihn ohnehin nicht infrage, seine Gefährtin im Stich zu lassen, damit sie noch einmal durchlebte, was auch immer sie durchleben musste, um zu ihm zurückzukommen. Er hatte sie in die Vergangenheit zurückgestoßen, und jetzt würde er sie mit allem abschirmen, was er in sich hatte, um sie wenigstens vor den schlimmsten ihrer Erinnerungen zu bewahren. Egal was es erforderte, er würde sich in allem vor sie stellen. Rest, o jelä sielamak. Licht meiner Seele, ich werde dich nicht hier zurücklassen. Die Zärtlichkeit in seiner Stimme überraschte ihn ebenso sehr wie das Gefühl in seinem Herzen.
Etwas Scharfes bohrte sich in seinen Knöchel, so tief, dass er es bis in den Knochen spürte. Sein Körper wurde plötzlich zurückgezerrt. Eis riss ihm die Haut von Schultern, Armen und Hüften. Er versuchte, nach hinten auszutreten, um abzuschütteln, was immer ihm den Knöchel durchbohrt hatte, doch das Einzige, was er damit erreichte, war schier unerträglicher Schmerz. Sein Körper wurde so schnell durch den Tunnel zurückgeschleift, dass Nicolas kein Stückchen heiler Haut mehr an sich zu haben glaubte, als er in das Eiszimmer hinaufgezerrt wurde.
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