Fluch der Nacht: Roman
Schlag, dass er durch den Raum geschleudert wurde.
»Antworte!«, zischte Xavier/Razvan missmutig.
Lara/Nicolas rappelte sich auf. »Mein bester Freund.«
Razvans Gesicht verzerrte sich, als setzte er sich wieder gegen Xavier zur Wehr. Er zitterte am ganzen Körper, und eine einzelne blutrote Träne lief über sein Gesicht. Für einen Moment streckte er die Hand aus, aber dann krümmten sich seine Finger abrupt zur Faust, und er fauchte höhnisch: »Freund? Denkst du etwa, diese Drachen wären deine Freunde? Warum sollte ein solch mächtiges Wesen sich mit jemandem wie dir anfreunden? Du bist doch überhaupt nichts wert, du jämmerliche kleine Kreatur.«
Wieder gackerte er böse los, und Nicolas lief es kalt über den Rücken, denn dieses meckernde Gelächter war jetzt ganz und gar Xaviers. Und wieder verspürte Nicolas diese ohnmächtige Hilflosigkeit, weil er wusste, dass er diesen Mann nicht aufhalten konnte. Er war ein sechsjähriges Kind – oder befand sich doch im Körper dieses Kindes -, blutarm und zerbrechlich, allein und ohne Hoffnung auf Entkommen. Und dann sah er plötzlich den Drachen aus der Wand hervorkommen, zunächst nur mit einem Fuß, den er dehnte und streckte, bis die scharfen Krallen sich gefährlich krümmten, und dann mit dem Kopf. Seine Augen blinzelten einen Moment lang, bevor ein rotes Glühen darin erschien. Der mächtige Schwanz peitschte gegen das Eis an der Wand, und dann brach der Drache ganz daraus hervor und landete nicht weit von Lara entfernt auf dem Boden.
Nicolas schob sie noch weiter hinter sich und umfing beschützend ihren Geist mit seinem, als er spürte, wie sie in banger Erwartung zusammenzuckte. Es würde schlimm werden, was jetzt kam. Er wusste, dass dies nicht nur physische, sondern auch psychologische Kriegsführung war, ein grausamer Versuch Xaviers, alle Hoffnungen der Kleinen zu zerstören, indem er einen erfundenen Kindheitsfreund, der die Gestalt ihrer geliebten Tanten annahm, gegen sie benutzte. Oder indem er in den Körper ihres Vaters eindrang, sodass der ihr den größtmöglichen Schaden zufügte, ihr Vertrauen missbrauchte und dafür sorgte, dass ihr gar nichts mehr blieb, was ihr noch ein Halt sein könnte. Und Nicolas vermochte sich nicht einmal vorzustellen, wie Razvan litt, dem zumindest in einem Teil seines Bewusstseins klar zu sein schien, dass sein Körper dazu benutzt wurde, sein Kind zu quälen.
Der Drache wiegte den Kopf vor und zurück, verdrehte die Augen und konzentrierte sich dann auf das Kind. Zischend und fauchend sprang er Lara/Nicolas an, und als sie im letzten Augenblick herumfuhren, hinterließen die Krallen tiefe Furchen in Nicolas’ Rücken. Er ging zu Boden und rollte sich wie ein Fötus zusammen, als der Drache nach seinen Beinen schnappte und mit seinem stacheligen Schwanz ausholte.
Besessen wie er von Xavier war, lachte Laras Vater, trat nach Nicolas/Lara und ermunterte den Drachen, Feuer zu spucken, bis sie schrie und Nicolas mit ihr brüllte.
Wehr dich nicht! Lass ihn nehmen, was er von dir will!, rieten ihr zwei weibliche Stimmen einhellig, und Nicolas merkte sofort, dass Lara mit beiden Füßen auszutreten begonnen hatte, aber nicht zu dem Drachen, sondern zu ihrem Vater hin.
Der Drache wiederholte seinen Angriff in einem Anfall wahnsinniger Raserei von Zähnen und Krallen. Nicolas spürte, wie seine Haut in Fetzen gerissen wurde und Muskeln unter diesen scharfen Krallen zerrissen. Die Bisse waren schmerzhaft, aber nicht tief. Das Schlimmste waren die Feuerstöße, die über seinen Kopf hinwegzischten und seine empfindliche Haut versengten, auf der sich unverzüglich Blasen bildeten.
Plötzlich ungeduldig geworden, schwenkte Xavier/Razvan die Hand, worauf der Drache sich in Nichts auflöste. Dann bückte er sich und zerrte Lara/Nicolas auf die Beine, riss mit seinen Zähnen das kleine Handgelenk auf und hockte sich hin, um gierig das frische rote Blut in sich hineinzusaugen. Nicolas unterdrückte ein gequältes Aufstöhnen über das Brennen und Pochen in seinem Arm. Ihm drehte sich der Magen um, und wieder einmal wurde sein Sichtfeld an den Rändern ganz dunkel.
Doch Lara wehrte sich urplötzlich, holte weit mit ihrem Arm aus und stieß Razvan die geschärften Zinken ihrer kleinen Gabel in die Kehle. Xavier schrie auf, stieß sie von sich und presste seine Hand an seinen blutenden Hals. Lara fuhr mit der Zunge über ihr Handgelenk und wich langsam zurück.
Nicolas wollte sie an sich drücken, so gerührt war er.
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