Fluch der Nacht: Roman
Vater, was immer er heute ist, ist offensichtlich falsch beurteilt worden. Auch er scheint einmal ein guter Mann gewesen zu sein. Natalya, seine Zwillingsschwester, kann dir sicher mehr über ihn erzählen.«
Lara erhob den Blick zu ihm, und Nicolas hatte das Gefühl, als zerschmölze etwas in der Nähe seines Herzens. Sie sah sehr blass und verletzlich aus, ihre Augen waren riesengroß und umrahmt von dunklen Schatten. Tröstend legte er einen Arm um sie und zog sie an sich – und war erstaunt, wie gut es tat, sie so zu halten.
Das Kinn auf ihrem Haar, wiegte er sie in den Armen. »Falls es noch zu früh für dich ist, Lara, können wir aber auch warten, bevor du mit ihr sprichst.«
Sie schmiegte sich nicht an ihn, doch sie legte ihre Arme um seine Taille und hielt sich an ihm fest. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Sie ist auch schon in der Eishöhle gewesen.«
Lara trat zurück und blickte zu ihm auf. »Wann? Irgendwann in jüngster Zeit?«
Nicolas nickte. »Ich weiß nicht mehr als das, was meine Brüder mir erzählt haben. Manolito, mein jüngerer Bruder, kämpfte bei einer nicht lange zurückliegenden Schlacht an ihrer Seite.« Er unterbrach sich, um Luft zu holen. »Alle dachten, sie hätte Razvan mit ihrem Schwert getötet, aber dann tauchte er anscheinend wieder auf, im Körper einer alten Frau, von dem er Besitz ergriffen hatte, und versetzte Manolito den Hieb, der ihn in die Schattenwelt beförderte.«
Lara wandte sich von Nicolas ab, um ihren Gesichtsausdruck vor seinen wachsamen Augen zu verbergen. Natürlich musste sie die Zwillingsschwester ihres Vaters sehen, sie wusste nur nicht, ob sie stark genug war, um noch mehr über ihren Vater herauszufinden. Es war viel leichter, ihn sich wie ein Ungeheuer vorzustellen statt wie einen so unsagbar gequälten Mann. Sie wollte sich nicht einmal ausmalen, was für eine psychische Qual es sein musste, zu wissen, dass der eigene Körper dazu benutzt wurde, andere zu drangsalieren. Das musste noch schlimmer sein als körperliche Folterqualen.
»Und wenn es stimmt«, murmelte sie vor sich hin, »habe ich ihn einfach dort zurückgelassen.« Sie erhob einen verzweifelten Blick zu Nicolas. »Deshalb hat er geholfen, meine Erinnerungen an ihn zu begraben, nicht? Und die Tanten waren damit einverstanden, weil ich nicht wissen sollte, dass ich einen Vater im Stich ließ, der versucht hatte, mich zu beschützen. Ich wäre nicht geflohen, wenn mir klar gewesen wäre, dass auch er ein Gefangener war und gefoltert und missbraucht wurde.«
Sie rieb sich das Handgelenk. Nicolas war es gelungen, die meisten Narben zu glätten, aber einige der dickeren waren noch zu sehen. Lara rieb mit dem Daumen darüber, ohne sich dessen bewusst zu sein, bis sie Nicolas’ Blick zu ihrem Handgelenk wandern sah. Verlegen legte sie ihren Arm hinter den Rücken.
»Tut es noch weh?«
Die Sanftheit seiner Stimme schnürte ihr die Kehle zu. Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es ist nur eine Angewohnheit.« Aber es hatte jahrelang geschmerzt und manchmal sogar ohne Grund gebrannt.
»Du hast ihn nicht im Stich gelassen, Lara. Du warst ein achtjähriges Kind damals. Sieh es doch einmal von seinem Standpunkt aus. Falls er unschuldig war und versucht hat, dich zu schützen, muss seine Erleichterung darüber, dass Xavier ihn nicht mehr gegen dich benutzen konnte, ganz ernorm gewesen sein. Wärst du geblieben, wäre sein Leid noch viel größer gewesen.«
»Das kannst du nicht wissen.«
Ein kleines Lächeln ließ seinen Gesichtsausdruck viel weicher erscheinen. »Er entstammt dem Geschlecht der Drachensucher, Lara. Sein natürlicher Instinkt ist, seine Familie zu beschützen, insbesondere die Frauen und Kinder. Wenn Xavier tatsächlich seinen Körper dazu benutzt hat, Frauen zu schwängern, wenn er wirklich deine Mutter vor Razvans Augen umgebracht hat, wie es im Augenblick scheint, und wenn er deinen Vater vollkommen beherrschte und ihn zwang, dein Blut zu sich zu nehmen, dann hat Razvan jahrhundertelang die Qualen der Verdammten durchgemacht. Das wäre das Schlimmste, was ein karpatianischer Mann erdulden könnte. Dein Vater würde sich gefreut haben, dich weit weg von der Höhle und außerhalb von Xaviers Einflussbereich zu wissen.«
Lara presste die Lippen zusammen. Sie konnte sehen, dass der Hunger Nicolas schwer zu schaffen machte, und dennoch stand er geduldig da und versuchte, ihr klarzumachen, dass es gut gewesen war, ihren Vater seinem grauenhaften Schicksal zu
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