Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)
die man zumindest den Kopf stecken konnte. Auch ein Loch, mit
bloßen Händen unter einem verrotteten Baumstumpf gegraben, war ein bereits hart umkämpfter Luxus gewesen. Drei, vier, fünf Männer teilten sich eine solche Behausung und bewahrten einander vor den gewaltsamen Übergriffen der anderen, der schwächeren Gefangenen, die unter dem schwülen, erbarmungslosen Himmel der Dougherty Plains in Georgia allmählich verhungerten.
Der Flint, in Andersonville noch ein träger, schlammiger Bach, überschwemmte regelmäßig die jämmerlichen Löcher der Gefangenen und war, von Menschenscheiße und Insektenlarven bedeckt, doch ihre einzige Trinkwasserquelle gewesen. Bis zu zweitausend Männer starben hier Monat für Monat an Fieber, Hunger und Entkräftung, und die Überlebenden schlugen sich um ihre dreckverkrusteten Kleider. Die Wachen der Konföderierten, abgestumpfte, geistlose Mörder, wagten sich auch bewaffnet nicht mehr in diese Hölle – aus Angst, die verzweifelten Gefangenen würden ihnen die Kehle durchbeißen.
Captain John Gowers hatte zu denen gehört, die die nackten Leichen einsammelten und an einem bestimmten Punkt der »Totenlinie«, dem niedrigen Zaun, von dem ab auf alles geschossen wurde, was sich bewegte, zu einem schaurigen Berg aufschichteten. Eine Insel im Südpazifik, so kalt und trostlos sie sein mochte, war dagegen ein Paradies. Aber das war es nicht, was ihm in diesem Moment durch den Kopf ging. Es war das sichere und sonderbar solidarische Wissen, dass die Flucht das natürliche Recht des Gefangenen, jedes Gefangenen, zu allen Zeiten und in allen Ländern ist; wer auch immer er ist und was auch immer er getan hat.
Gowers wandte sich deshalb zum Anführer des Gefangenenaufstands zurück, und der noch immer heftige Regen schlug ihm ins Gesicht, als er sagte: »Wenn dieser Wind anhält, werden Sie Schwierigkeiten haben, aus der Bucht zu kommen.«
Te Kooti, von dem gleichen Regen durchnässt, nickte langsam, erwiderte aber zuversichtlich: »Gott ist auf unserer Seite, Mr. Gowers!«
Etwas in dem fast hypnotischen Blick des ungewöhnlichen Maorikriegers sagte John Gowers, dass es nicht klug wäre, zu fragen, wie viele Generäle in wie vielen Kriegen diese Worte schon gesagt haben mochten.
112.
Das Delta des Mississippi führte die Kartografen des 19. Jahrhunderts an ihre Grenzen. Nicht nur hatte der Fluss etliche Millionen Jahre lang Sediment in den Golf von Mexiko geschoben, das zu Marschland und Mangrovenwäldern angewachsen war. Er hatte sein ursprüngliches Bett auch noch zwanzig, dreißig, vierzig Meilen nach Osten verlagert und dabei das größte Sumpfgebiet Nordamerikas, den Atchafalaya Swamp, hinterlassen; zweieinhalbtausend Quadratkilometer von Altarmen, Brackwasser, Schlickgras, Sumpfzypressen und Spanischem Moos, von Alligatoren, giftigen Reptilien, Moskitos und dem gelben Fieber.
Sumpf und Marsch aber waren in der Sprache der Kartografie nie besonders beliebte Begriffe, weil sie im geologischen Sinn etwas Unfertiges, zwischen den Aggregatzuständen »fest« und »flüssig« Wechselndes bezeichnen, kurz: etwas, das man nicht guten Gewissens mit klar umrissenen Grenzen auf einer Karte eintragen kann. Denn wo heute noch ein Fluss war, ein See, eine Bucht, mochte bis zum Erscheinen der Karte längst trockener Schlamm vor sich hin erodieren – und umgekehrt.
Die unbedarfteren Kartografen zeichneten an solchen Stellen ganz einfach Hunderte von Fantasieinselchen oder -wasserläufen, wie sie es noch im Zeitalter der Aufklärung mit ganzen Kontinenten getan hatten. Die nachdenklicheren aber sahen durch Dinge wie das Delta des Mississippi ihre gesamte Kunst ad absurdum geführt und rächten sich durch gestrichelte Linien und das verächtlich hingeworfene Wort »Schlammflächen « , als seien solche Regionen keine kartografische Mühe wert und gewissermaßen selbst daran schuld.
Die US-Regierung, naturgemäß daran interessiert, die Grenzen ihres Staatsgebietes so exakt wie möglich zu kennen, hatte in den späten 1840er- und frühen 1850er-Jahren verschiedene trostlose Vermessungsexpeditionen im Mündungsgebiet des Mississippi durchführen lassen, aber die dabei entstandenen Karten waren hinsichtlich einer auch nur kilometergenauen Orientierung schon nach Jahresfrist weitgehend Makulatur. Hochwasser, Hurrikans oder einfach die Kräfte von Ebbe und Flut, die mitunter bis nach Baton Rouge spürbar waren, schufen praktisch täglich, wöchentlich, monatlich neue Inseln,
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