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Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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gewesen, aber ihre »Kreuzfahrt« durch das Delta hatte diese Berechnungen über den Haufen geworfen. Sie brauchten Kohle, wenn auch nicht sofort. Vermutlich würden sie noch bis zum Mississippi kommen. Aber dort, immer noch tief im Süden der Sklavenhalterstaaten, mit ihrem Gerippe von Schiff eine Anlegestation anzulaufen, um Kohle zu bunkern, würde unmöglich sein. Denn nach wie vor transportierten sie ja so etwas wie Diebesgut, auch wenn sich die »Ware« selbst gestohlen hatte, immer öfter das Lächeln freier Menschen in den Gesichtern trug und sogar angefangen hatte, Pläne für eine eigene Zukunft zu entwickeln.
    Von dem Gedanken, noch einmal Sklaven zu sein, waren die Flüchtlinge deshalb nur schwer zu überzeugen. Erst als Deborah ihnen erklärte, dass diese Tarnung notwendig sei und nur wenige Stunden dauern würde, als allen klar wurde, dass sie die Rolle der Sklaven nur spielen würden, um an Kohle zu kommen, hatte John Lafflin genügend Freiwillige, um die entsprechende Scharade wirkungsvoll aufführen zu können. Sie würden Morgan City umgehen, um von Norden her in die Stadt zu kommen, sich als Sklavenhändler ausgeben, deren Schiff im Sumpf stecken geblieben sei, und die nötige Kohlemenge erwerben, um es wieder flottzubekommen.
    Die Deep South anschließend ungesehen durch Morgan City zu bringen würde wieder John Gowers’ Aufgabe sein  – der für die Zeit, in der der Kapitän, Mr. Phineas, Gringoire und vor allem Jason nicht an Bord sein würden, seine eigenen Pläne schmiedete. Er hatte von John Lafflin erfahren, dass Deborah nicht besonders gut lesen konnte. Schon als sie ihm zum zweiten Mal den Morgenkaffee ins Steuerhaus
brachte, hatte er deshalb angeboten, es ihr beizubringen, und zu ihrer eigenen Überraschung hatte Deborah Ja gesagt. Sie würden also einen ganzen Tag, eine Nacht vielleicht, die die Deep South versteckt in einem Winkel des Sweetbay Lake verbringen musste, zusammensitzen und lesen. Und erst als seine Euphorie über diese Entwicklung der Dinge ein wenig abklang, fiel dem jungen Lotsen siedend heiß ein, dass es überhaupt keine Bücher an Bord gab.
    Glücklicherweise hatte er seinem Gedächtnis zwar einen nicht unbedeutenden Leseschatz einverleibt, aber was davon konnte er in so kurzer Zeit in möglichst deutlichen Druckbuchstaben zu Papier bringen? Mit Gedichten hatte er nie viel anfangen können, und wenn ihn jemand gefragt hätte, warum ihm plötzlich so viele davon einfielen, hätte er wahrscheinlich geantwortet, dass sie eben kurz seien, sehr geeignet, um lesen zu lernen. Leider hatte er sich bei Lyrik immer am wenigsten konzentriert und wusste  – bis auf die Reime  – entsprechend wenig davon wörtlich; sodass Shakespeares Sonett Nr. 18 ihm am Ende vorkam, als hätte er das meiste davon selbst geschrieben.
    Soll ich Dich mit dem Sommertag vergleichen,
die Du doch lieblicher und schöner bist?
Der milde Mai muss rauen Winden weichen,
und allzu kurz ist eines Sommers Frist.
     
    Bisweilen scheint die Sonne bis zum Brennen,
dann wieder ist des Himmels Auge matt.
Und alles Schöne kann ein Zufall trennen;
der Wechsel schleift und hobelt alles glatt.
     
    Du wirst nicht wie ein Sommertag verschwinden,
solange eine Zeile von mir lebt.
Die Todesschatten werden Dich nicht finden,
ist Deine Schönheit ins Gedicht gewebt!
    So lange Menschen atmen, Augen sehen,
wird dieses Lied  – und Du darin  – bestehen.
    Nun, dachte er zufrieden, das würde ja vielleicht den doppelten Zweck erfüllen, der ihm vorschwebte. Das Herz fiel ihm aber schlagartig in die Kniekehlen, als Deborah am frühen Abend ins »Texas« kam, er ihr den Zettel schon gegeben hatte  – und sie ihn bat, den Unterricht doch im Vorschiff abzuhalten, wo die anderen seien.
    »Welche anderen?«, fragte er entgeistert.
    »Die anderen Frauen und die älteren Kinder«, antwortete sie, erstaunt über seine Bestürzung. »Es wäre doch sinnlos, wenn nur ich richtig lesen lerne.«
    Verzweifelt überlegte er, wie er wieder in den Besitz des Zettels kommen könnte, und sagte auf dem Weg nach unten irgendwann stotternd: »Nun, dann … Dann ist es wohl besser, wir fangen mit dem Alphabet an. Das da«, er machte eine fast wegwerfende Handbewegung, »ist sozusagen für Fortgeschrittene, für später!« Er wurde tatsächlich rot und war froh, dass sie vor ihm ging und es nicht sah.
    »Gut, für später also « , antwortete sie, faltete den Zettel zusammen, gab ihn aber nicht wieder her.
    Im Vorschiff saß ein

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