Flucht aus Katmandu
wäre fast zwischen ihnen in den Bach gefallen und hätte dabei die Brücke zum Einsturz gebracht. Er hatte jeweils einen Arm und ein Bein um einen Stamm gelegt und hing fest. »Durchhalten!« schrie der Colonel ihn wütend an. »Nicht bewegen! Lassen Sie ja nicht los!« Und auf Tibetanisch befahl er dem Rest der Khampas, auf das andere Ufer zu kommen. Den meisten gelang das, ohne auf George zu treten, aber bei weitem nicht allen. Als wir alle drüben waren, krochen der Colonel und ich zurück und zogen George über die beiden Bäume in Sicherheit.
Das Erlebnis schien George aus seiner Erstarrung gerissen zu haben – er murmelte nun nicht mehr »Was? Was? Was?«, sondern gab ein deutlich verständliches »Scheiße! Scheiße! Scheiße!« von sich.
»Na ja«, sagte ich im Versuch, ihn aufzuheitern. »Wenigstens haben wir keine Steigeisen getragen.«
Keine Antwort von George.
Nun hatten wir den größten der Flüsse überwunden und konnten uns ohne weitere Probleme zum Nangpa La zurückziehen. In der Tat erreichten wir den Paß so genau nach unserem Zeitplan, daß man glauben mochte, es hätte alles wie am Schnürchen geklappt, und wer weiß, vielleicht war der Colonel auch dieser Meinung, denn als wir, mit den Gurkhas dicht auf den Fersen, den Paß hinaufeilten, kam Kunga Norbus Gruppe von der tibetanischen Seite hinaufgeeilt, mit der Chinesischen Armee dicht auf den Fersen, und wir liefen über den Grat, verschwanden in unserem Tunnel, knallten die Tür zu und überließen es den Gurkhas und Chinesen, die Dinge zu klären, falls sie dazu imstande sein sollten. »Die bringen sich gegenseitig um«, sagte ich zum Colonel.
»Gut«, schnaubte er.
Dann ging es zurück durch die Tunnels, jeden Meter im Laufschritt. Zum Glück für George ging es bergab, denn als wir den Hauptbahnhof und dann den Klosterkeller erreichten, traten wir ins helle Morgenlicht hinaus, was bedeutete, daß wir die ganze Nacht über gelaufen waren. Das war der übliche Guerilla-Stil der Khampas; ich nehme an, wir hatten in den letzten achtzehn Stunden etwa achtzig Kilometer zurückgelegt, zwanzig unter ständigem Beschüß. Ich war erschöpft, und George war völlig fertig. Er sah aus, als hätte er noch seine Dämonenmaske auf, und zwar eine der abscheulicheren, das Gesicht geschwollen und voller blauer Flecken und blutig, den Mund zu einer Grimasse verzerrt und die Augen vor Unglauben hervorquellend, daß er an solch einer Unternehmung wie der unsrigen teilgenommen hatte. Doch wir waren zurück.
Lhamo und die anderen Dörfler kümmerten sich aufopferungsvoll um George. Mehrere Tage lang wälzte er sich im Lhamos Haus im Fieber, stöhnte und ächzte, und Sindu und ihr Kind halfen Lhamo, ihn zu füttern und ihm das Gesicht abzuwischen, wobei sie sorgsam darauf achteten, nicht die Schnitte und Prellungen zu berühren, um die sich Dr. Choendrak auf die übliche Weise gekümmert hatte: Er hatte sie genäht und so weiter.
Dr. Choendrak hatte sich auch entschlossen, Georges Dysenterie ein für alle Mal zu heilen, und ihm die Rinchen ribus, die wertvollen Pillen, verordnet. Diese Pillen setzen sich aus einhundertfünfundsechzig Bestandteilen zusammen, darunter wertvolle, zu Pulver zermahlene Metalle und zahlreiche Heilpflanzen, die dann mit regenbogenfarbigen Fäden in bunte Baumwolle eingenäht und mit Wachs versiegelt werden. Zwanzig Apotheker brauchen bis zu drei Monaten, um sie ein solches Säckchen herzustellen, und das Medikament ist so stark, daß der Patient normalerweise einen ganzen Tag flachliegt, während das Gleichgewicht seiner Gedärme wiederhergestellt wird. George lag fünf Tage völlig flach, und eine Weile war Dr. Choendrak wirklich um ihn besorgt. Doch schließlich erholte er sich und stand auf, ein bloßer Schatten seiner selbst, steifgliedrig und mit einem zottigen Bart, der sein Gesicht aussehen ließ, als wären kleine Axtmörder mit winzigen Äxten hinter ihm hergewesen.
Der Monsun ließ nach, wir hatten mehrere sonnige Tage hintereinander, und George verbrachte die Zeit auf dem Aussichtsfelsen über dem Wäscheteich und beobachtete die Einheimischen bei ihrem Alltagsleben. Er war noch immer ziemlich krank und schwach, aber da oben brauchte er auch keine Kraft. Neuankömmlinge am Teich begrüßten ihn auf Tibetanisch, und er antwortete auf Englisch, und alle waren mit diesem Arrangement zufrieden. Die meiste Zeit über schlief er auf seinem Felsen wie eine Katze.
Mittlerweile war Colonel John nach Katmandu gefahren, und
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