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Flucht aus Katmandu

Titel: Flucht aus Katmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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sie Schutz vor dem Regen fanden und etwas Wärme von den Öfen auf der anderen Mauerseite bekamen. George und der Bettler saßen mit dem Rücken an der Wand, und das kleine Mädchen lag ausgestreckt zwischen ihnen. Alle drei schliefen fest. Georges Kopf ruhte an einem Ziegelstein, und er schnarchte wie eine Säge, und sein Gesicht war ganz eingefallen, als läge er seit vierzig Jahren tot in einer Wüste. Ich trat leicht gegen seine Stiefelsohlen, und er zuckte zusammen, öffnete die Lider und starrte mit glasigen Augen hoch, ohne wirklich etwas zu sehen. »Wach auf, Bruder«, sagte ich leise. »Komm nach Hause.«
    Keine Antwort von George.

Vierter Teil
    Das unterirdische Königreich

1

    Es ist erstaunlich, wie kurz die Unschuld der Jugend nur währt.
    In meinem Fall währte sie eigentlich fast vierzig Jahre, doch ich bemerkte sie erst, nachdem sie verschwunden war, und so hatte ich natürlich nicht das Gefühl, als hätte sie lange gewährt. Höchstens ein paar Sekunden. Und danach war ich erfahren. Ich wußte es. Ich ging über die Straßen Katmandus, auf denen sich die Menschen drängten, was mir immer große Freude bereitete, und sah nun nur noch Verwahrlosung, Armut und falsche Stadtplanung.
    Und Sie wissen, wessen Schuld das war.
    Und so lag ich eines Abends in meinem Zimmer im Hotel Star mit der Tribbie auf dem Bett und fragte mich, ob eine Zeitung wirklich die Wahrheit über die Welt schreiben konnte, und wußte nun, daß das wohl doch der Fall war. Und jemand klopfte an meine Tür. Ich öffnete sie, und da stand Freds Fredericks, der aussah, als sei er gerade aus dem Himalaja zurückgekehrt.
    Ich schlug schnell die Tür zu und schloß sie ab. »Verschwinde hier, Freds!« sagte ich laut. »Ich will nie wieder dein Gesicht sehen!«
    Gedämpfte Proteste von draußen. Ich ignorierte sie, kehrte auf mein Bett zurück, griff mir die Zeitung und steckte die Nase hinein. »Verschwinde!« rief ich zur Tür. Bang bang bang. »Verschwinde, verdammt noch mal!«
    Meine Tür teilt sich die Vorderwand des Zimmers mit einem Fenster, und das Fenster bestand aus drei Scheiben – eine große, flankiert von zwei schmalen, die auf Drehzapfen montiert sind. Diese schmalen Fenster kann man wie kleine Drehtüren öffnen, um eine frische Brise hinein- oder Rauch hinauszulassen. Als ich nun zu lesen versuchte, sah ich, wie Freds' Hand die schmale Scheibe neben der Tür drehte, dann hineingriff und nach dem Türknopf tastete. Mit einer Drehung hatte er die Tür geöffnet.
    Soviel zu den Sicherheitsvorkehrungen im Hotel Star.
    Es war sowieso hoffnungslos; zweifellos hatte Freds bereits ein Zimmer gemietet, wahrscheinlich das nebenan, in dem er normalerweise wohnte. Ich würde ihm nicht ausweichen können. »Was willst du?« sagte ich und warf die Zeitung zu Boden.
    »Nichts, George. Weißt du, ich komme gerade aus dem heiligen Tal zurück und dachte, ich schaue mal vorbei und sehe, wie es dir geht.«
    »Mir geht's gut«, sagte ich. »Ich wiege fast schon wieder soviel wie in der achten Klasse.«
    »Das ist gut, George, echt gut. Du siehst auch gut aus. Man kann die Narben kaum noch sehen.«
    »Wunderbar.«
    Freds setzte sich auf den einzigen Stuhl des Zimmers. »Hör zu, George, ich muß dich um einen kleinen Gefallen bitten – Ahhh! – He! – Nein! – He! Einen wirklich kleinen, George! Einen wirklich kleinen!«
    Mittlerweile waren wir auf dem Gang, und ich hatte ihn an der Kehle gepackt. Ich wußte nicht mehr genau, wie wir dorthin gekommen waren. Diese Eigenschaft, die ich in letzter Zeit entwickelt hatte, erfüllte mich mit Besorgnis. Erinnerungslücken. Phasen der Amnesie oder übertriebene Gefühlsreaktionen. Wahnsinn – ja, darüber sprechen wir hier.
    Ich lockerte meinen Griff um seine Kehle und sagte vorsichtig: »Muß ich irgend etwas tun?«
    »Nein! Gar nichts!«
    »Gut.« Ich kehrte in mein Zimmer zurück und ließ mich schwer auf das Bett fallen. Seit meiner letzten Begegnung mit Freds ermüde ich immer so schnell.
    In Wahrheit hatte ich genug von Freds Fredericks. Er war die Schlange in meinem Garten; er hatte den verfaulten Apfel des Wissens genommen und ihn mir in die Kehle gestopft, und ich war daran erstickt. Und nun machte mir nichts mehr in Nepal Spaß.
    »Was ist es diesmal?« sagte ich und verspürte unwillkürlich das Gefühl, ich würde gleich hören, wie ein Urteil über mich gefällt wurde.
    »Nichts, George, wirklich. Nichts. Entspanne dich. Es ist nur, daß meine Freunde Gaubahal und Daubahal unten

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