Flucht aus Katmandu
sich in tibetanischen Tee verwandelt hätte. »Ich kann es nicht glauben.«
Ich wußte es damals noch nicht, aber das erwies sich für Freds als unerwartete Gelegenheit, seinen Plan vorzeitig in die Tat umzusetzen. »Habt ihr nicht davon gehört?« sagte er. »Kunga Norbu ist genau wegen der Besteigung hier, von der sie gesprochen haben, wegen der, die 1980 auf der Nordwand eine Leiche gesehen hat.«
»Ach ja?« sagten wir alle.
»Ja, ehrlich. Kunga hat an der chinesischen Expedition 1980 zum Nordsattel teilgenommen und suchte nach einem direkten Weg zur Nordwand, als er eine Leiche sah.« Freds sprach auf Tibetanisch mit Kunga Norbu, und Kunga nickte und antwortete ausführlich. Freds übersetzte für ihn: »Er sagt, es sei ein Abendländer gewesen, und er hätte eindeutig schon lange dort gelegen. Hier, er sagt, er kann es auch auf einem Foto zeigen …« Freds holte seine Brieftasche hervor und zog ein Papierknäuel hervor. Auseinandergefaltet erwies es sich als mitgenommenes Schwarzweiß-Foto des Everest, von der tibetanischen Seite aus gesehen. Kunga Norbu betrachtete es lange, sprach mit Freds darüber, ließ sich – dann von Freds einen Kugelschreiber geben und malte sorgfältig einen Kreis auf das Foto.
»Warum hat er die halbe Nordwand eingekreist?« fragte John. »Das ist doch völlig sinnlos.«
»Nee«, sagte Freds. »Sieh doch, es ist ein ganz kleiner Kreis.«
»Es ist auch ein kleines Foto, oder?«
»Na ja, er kann die Stelle genau beschreiben – sie ist da oben auf der Spitze des Schwarzen Rings. Auf jeden Fall ist es jemandem gelungen, eine Expedition zusammenzustellen, die nach den Leichen suchen soll. Nun ist Kunga letztes Jahr nach Nepal geflohen, so daß diese Expedition mit Informationen aus zweiter Hand von seinen Kletterfreunden auskommen muß. Aber das könnte reichen.«
»Und wenn sie die Leichen finden?«
»Ich glaube, sie haben vor, sie mit runterzunehmen, nach London zu verschiffen und in der Winchester Cathedral zu begraben.«
Die Engländer starrten ihn an. »Du meinst, Westminster Abbey?« fragte Trevor.
»Ach ja, richtig, die beiden verwechsle ich immer. Auf jeden Fall haben sie das vor, und sie wollen einen Film daraus machen.«
Ich stöhnte bei dem Gedanken auf. Noch mehr Video.
Die vier Engländer stöhnten lauter als ich. »Das ist wirklich abscheulich«, sagte Marion.
»Widerlich«, pflichteten John und Mad Tom ihr bei.
»Eine Travestie, nicht wahr?« sagte Trevor. »Ich meine, wenn überhaupt jemand dort oben hingehört, dann diese beiden. Das ist nichts anderes als Grabschändung!«
Und seine drei Gefährten nickten. Auf einer Ebene scherzten sie und täuschten ihren Zorn nur vor; doch darunter meinten sie es todernst. Sie meinten, was sie sagten.
5
Um zu verstehen, wieso die Vorstellung sie dermaßen aufbrachte, muß man wissen, welche Bedeutung die Geschichte von Mallory und Irvine für die englische Seele hat. Das Bergsteigen war dort immer viel wichtiger als in Amerika – man könnte sagen, daß die Engländer diesen Sport in viktorianischen Zeiten erfunden und seitdem immer wieder hervorragende Leistungen darin gebracht haben, sogar noch nach dem Zweiten Weltkrieg, als bei ihnen ziemlich viel auseinanderfiel. Man könnte sagen, daß Bergsteigen der Rolls Royce des britischen Sports ist. Whymper, Hillary, das brillante Team, das in den siebziger Jahren mit Bonington kletterte: das alles sind Volkshelden.
Aber Mallory und Irvine sind die größten überhaupt. Damals in den zwanziger und dreißiger Jahren hatten die Engländer einen Alleinanspruch auf den Everest, da Nepal für Ausländer verschlossen war und Tibet für alle bis auf die Briten, die sich 1904 mit Younghusbands Feldzug ins Land gedrängt hatten. Also war der Berg ihr privater Spielplatz, und während jener Jahre machten sie vier oder fünf Versuche, die alle scheiterten, was durchaus verständlich ist: sie waren ausgerüstet wie die Pfadfinder, mußten sich an Ort und Stelle die Höhentechnik aneignen und hatten schreckliches Pech mit dem Wetter.
Der Versuch, der einem Erfolg am nächsten kam, fand 1924 statt. Mallory, schon berühmt von zwei vorherigen Versuchen, war der Expeditionsleiter. Wie Sie vielleicht wissen, war er der Bursche, der antwortete: »Weil er da ist!«, als man ihn fragte, warum jemand das Ding besteigen wollte. Das ist entweder eine sehr tiefgründige oder eine sehr dumme Antwort, je nachdem, was man von Mallory hält. Sie können sich die Ihnen genehme Interpretation
Weitere Kostenlose Bücher