Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Flucht aus Katmandu

Titel: Flucht aus Katmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
Vom Netzwerk:
aussuchen: Der Bursche ist in Grund und Boden psychoanalysiert worden. Auf jeden Fall wurden er und sein Partner Irvine zuletzt gesehen, als sie sich kaum vierhundert Meter unter dem Gipfel befanden – und um ein Uhr mittags an einem Tag, an dem abgesehen von einem kurzen Sturm und Nebel, der den Gipfel vor den Blicken der Beobachter unten verbarg, gutes Wetter herrschte. Also haben sie es entweder geschafft oder auch nicht; aber irgend etwas ging irgendwo auf dem Weg schief, und sie wurden nie wieder gesehen.
    Eine glorreiche Niederlage, ein unergründliches Geheimnis: das ist die Art von Geschichte, die die Engländer einfach lieben, wie wir alle anderen auch. Die ganzen Internatstugenden in eine heroische Erzählung eingehüllt – kein Schriftsteller könnte sie sich besser ersinnen. Bis zum heutigen Tag findet diese Geschichte in England ungebrochenes Interesse, und das gilt erst recht für die Bergsteigergemeinschaft, die mit ihr aufwuchs und noch immer in Zeitschriftenartikeln, Stammtischgesprächen und so weiter zahlreiche Spekulationen über das Schicksal der beiden Männer betreibt. Sie lieben diese Geschichte einfach.
    Dort hinaufzuklettern, die Leichen zu suchen, dem Geheimnis ein Ende zu bereiten und die Leichen nach England zu schaffen… Jetzt wissen Sie, warum das meinen Trinkgenossen an diesem Abend wie ein Sakrileg vorkam. Es war wieder so ein moderner Werbegag, ein von einer Werbeagentur ersonnener Plan, Geld zu scheffeln – eine Entweihung des Großen Geheimnisses. Es erinnerte mich in der Tat ein wenig an Videotrekking. Nur noch schlimmer. Also fühlte ich in gewisser Weise mit ihnen.

6

    Ich versuchte, mir einen Themenwechsel einfallen zu lassen, um die Engländer abzulenken. Doch Freds schien entschlossen, ihrem Trübsal noch Zunder zu geben. Er stach mit dem Finger auf das zusammengefaltete Wrack eines Fotos ein. »Wißt ihr, was ihr tun solltet?« sagte er leise zu ihnen. »Ihr habt gesagt, ihr wolltet den Pumori besteigen? Mann, Scheiße, verzieht euch lieber in die andere Richtung, seid vor der anderen Expedition da und versteckt den alten Mallory. Ich meine, hier habt ihr den eigentlichen Augenzeugen, der euch zu ihm führen könnte! Unglaublich! Ihr könntet Mallory im Eis und Schnee vergraben und euch dann wieder runterschleichen! Wenn ihr das tut, werden sie ihn nie finden!«
    Alle Engländer starrten Freds aus weit aufgerissenen Augen an. Dann sahen sie einander an und senkten die Köpfe tief auf den Tisch. Ihre Stimmen wurden leise. »Das ist ein Genie«, flüsterte Trevor.
    »Äh, nein«, warnte ich sie. »Er ist kein Genie.« Laure schüttelte den Kopf. Selbst Kunga Norbu schaute zweifelnd drein.
    »Was ist mit dem Lho La?« fragte John. »Müssen wir den nicht erklettern?«
    »Ein Kinderspiel«, sagte Freds sofort.
    »Nein«, protestierte Laure. »Kein Kinderspiel! Paß! Sehr steiler Paß!«
    »Ein Kinderspiel«, beharrte Freds. »Ich habe ihn vor ein paar Jahren mit dieser Gruppe erklettert, die die direkte Westroute suchte. Wenn man ihn bestiegen hat, schlägt man sich einfach auf den Westsattel und hat dann direkt zur Linken die ganze Nordwand vor sich.«
    »Freds«, sagte ich und versuchte ihm klarzumachen, daß er seine Gefährten nicht zu solch einer gefährlichen und überdies illegalen Kletterpartie verleiten sollte. »Ihr würdet viel mehr Hilfe bei den Hochlagern brauchen, als ihr habt. Dieser Kreis hier ist verdammt hoch oben auf dem Berg.«
    »Stimmt schon«, sagte Freds augenblicklich. »Ziemlich hoch oben. Verdammt hoch oben. Man kann nicht mehr viel höher kommen.«
    Natürlich hätte ich wissen müssen, daß so eine Bemerkung Leute wie die Engländer nur noch zusätzlich anspornte.
    »Man müßte es machen wie damals Woody Sayres«, fuhr Freds fort. »Das war 1962, oder? Sie brachten Sherpas dazu, ihnen über Cho Oyo auf den Nup La zu helfen, und schlugen sich dann zum Everest, wo sie den Gyachung Kang besteigen wollten. Sie nahmen ein einziges Lager den ganzen Weg zum Everest mit hinauf und kehrten auf dieselbe Art zurück. Sie waren nur zu viert und hätten ihn fast erklettert. Und der Nup La ist dreißig Kilometer weiter vom Everest entfernt als der Lho La. Der Lho La liegt praktisch direkt darunter.«
    Mad Tom schob seine Brille die Nase hinauf, zog einen Kugelschreiber hervor und stellte auf dem Tisch Berechnungen an. Marion nickte. Trevor füllte all unsere Gläser mit Chang. John sah über Mad Toms Schulter und murmelte ihm etwas zu; anscheinend waren sie

Weitere Kostenlose Bücher