Flucht aus Katmandu
Ich wollte ihm einige Fragen stellen. Doch es waren eine Menge Leute auf dem Trail, und es war nicht einfach, einen Augenblick unter vier Augen mit ihm sprechen zu können.
Als Eröffnung sagte ich: »So, jetzt hast du also eine Frau in deinem Team.«
»Ja, Marion ist toll. Sie ist wahrscheinlich die beste Kletterin von uns allen. Und unglaublich stark. Du kennst doch diese Wände in Hallen, die sie in England zum Üben haben?«
»Nein.«
»Na ja, das Wetter ist so schlecht da, und die Kletterer sind so fanatisch, daß sie diese zehn oder zwölf Meter hohen Wände in Turnhallen aufgebaut haben, mit Mörtel überzogen und kleinen Handgriffen.« Er lachte. »Es sieht scheußlich aus – kleine alte Turnhallen mit schlechter Beleuchtung und ohne Heizung, und die ganzen Leute ziehen sich da Betonwände hoch, als sei das eine neue Foltermethode … Auf jeden Fall war ich mal in so einer Halle und hab' mich zu einem Wettrennen mit Marion überreden lassen, die beiden steilsten Wände hinauf. Die Leute wetteten auf uns, und die Regel besagte, daß einer von uns ganz nach oben mußte, wollten die Leute die Wetteinsätze kassieren. Aber wegen einem Loch in der Decke war die Wand feucht, und ich kam etwa bis zur Hälfte hinauf. Also hatte sie gewonnen, aber wollten die anderen den Wetteinsatz kassieren, mußte sie ganz hinauf. Mit dem Leck war es wirklich unmöglich, aber alle, die auf sie gewettet hatten, riefen ihr zu, sie sollte es versuchen, und so biß sie einfach die Zähne zusammen und fing an, diese Bewegungen zu machen, Mann« – Freds ahmte sie mit der Hand in der Luft nach, während wir marschierten – »und sie machte sie ganz langsam, damit sie nicht runterfiel. Sie hing an den Fingerspitzen und Zehen da oben, und ich schwöre bei Gott, sie muß drei Stunden da gehangen haben. Alle anderen hörten mit dem Klettern auf, um ihr zuzusehen. Ein paar Jungs gingen nach Hause, ein paar baten sie, wieder runterzukommen, ein paar hatten Tränen in den Augen stehen. Schließlich kam sie dann doch noch ganz rauf und kroch zu der Leiter, um wieder runterzukommen, und die Leute haben sie auf die Schulter genommen. Sie hätten sie fast zur Königin gekrönt. Eigentlich ist sie schon Königin, zumindest, was die englischen Kletterer betrifft – wenn die echte käme, und Marion wäre da, würde niemand auf Lisbeth achten.«
Dann drängte sich Arnold zwischen uns und schaute verschwörerisch drein. »Ich halte diesen Mallory-Plan für eine tolle Idee«, flüsterte er uns mit zusammengebissenen Zähnen zu. »Ich stehe völlig hinter euch, und das wird einen tollen Film geben.«
»Du hast was übersehen«, sagte ich zu ihm.
»Wir besteigen nur den Lingtren«, sagte Freds zu ihm.
Arnold runzelte die Stirn, ließ das Kinn auf die Brust fallen und kaute auf seiner Zigarre. Stirnrunzelnd ging Freds schneller, um seine Gruppe einzuholen, und sie verschwanden bald vor uns außer Sicht. Also hatte ich meine Chance vertan, mit ihm zu sprechen.
Wir kamen zum oberen Ende des Pheriche-Tals, wandten uns nach rechts und stiegen zu einem noch höher gelegenen hinauf. Das war das Tal des Khumbu-Gletschers, einer massiven Eisfläche, bedeckt mit einem Chaos aus grauem Geröll und milchigblauen Schmelzwasserteichen. Wir zogen am Rande des Gletschers entlang und folgten einem Weg über seine Seitenmoräne hinauf nach Lobuche, einem Ort, der aus drei Teehäusern und einem Zeltplatz besteht. Am nächsten Tag marschierten wir talaufwärts nach Gorak Shep.
Nun ist Gorak Shep (›Tote Krähe‹) nicht der Ort, den man auf Plakaten in Reisebüros sieht. Es liegt etwa fünftausendeinhundert Meter hoch, und da oben hat das Pflanzenleben so ziemlich aufgegeben. Der Ort besteht aus zwei zerlumpten kleinen Teehäusern unter einem monströsen Geröllhügel, direkt neben einem grauen Gletscherteich, und sieht alles in allem aus wie die Rückstände einer außergewöhnlich großen Kiesgrube.
Doch Gorak Shep hat Berge. Hohe, schneebedeckte Berge auf allen Seiten. Wie hoch? Nun ja, die Nuptse-Wand erhebt sich zum Beispiel volle zweitausend Meter über Gorak Shep. Wir sahen eine Lawine, die unter ohrenbetäubendem Donnern einen winzigen Teil dieser Wand hinabglitt und etwa doppelt so hoch wie das World Trade Center war und trotzdem winzig wirkte.
Kameras können diesen gewaltigen Anblick niemals einfangen, doch man muß es unwillkürlich versuchen, und meine Gruppe versuchte es in den Tagen, da wir dort kampierten, auf Teufel komm raus. Diejenigen, die
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