Flucht aus Katmandu
Gefahren zu tun. Sie sehen also, daß Bergsteigen eine sehr rationale Angelegenheit ist.
An diesem Tag befanden wir uns jedoch inmitten einer ganzen Wand objektiver Gefahren, und das machte mich nervös. Wir verfuhren wie üblich in solch einem Fall, was heißt, daß wir uns höllisch beeilten. Wir vier stürmten praktisch den Lho La hinauf. Freds, Kunga und Laure waren äußerst stark und schnell, und ich war auch einigermaßen in Form; außerdem verfügte ich über den Vorteil eines höheren Adrenalinausstoßes, als ihn weniger phantasievolle Menschen haben. Also stellten wir einen neuen Rekord auf.
Dann passierte es. Freds war neben mir, hing mit Kunga Norbu an einem Seil, und Kunga war die volle Länge des Seils entfernt – etwas zwanzig Meter – und führte uns um einen Quergang herum, der unter einer riesigen Eiszacke verlief, wie man die blauen Eisvorsprünge nennt, die, oft in Gruppen, aus einem Eisfall hervorragen. Kunga war direkt unter dieser Eiszacke, als sie ohne die geringste Warnung abbrach, hinabstürzte und in tausend Stücke zersplitterte.
Ich hatte instinktiv tief eingeatmet und wollte gerade schreien, als Kunga Norbu gegen meinen Ellbogen prallte und mich fast hinabgestoßen hätte. Er war zwischen Freds und mir eingekeilt, und das Seil, das sie zusammenhielt, schlug zwischen unseren Beinen hin und her.
Beim Versuch, meinen Schrei zu ersticken, würgte ich, rang nach Atem und würgte erneut. Freds schlug mir auf den Rücken, um mir zu helfen. Kunga war eindeutig da, stand vor uns, greifbar und körperlich. Und doch war er unter der Eiszacke gewesen! Die zerbrochenen Eisstücke lagen frisch und glänzend in der Nachmittagssonne vor uns verstreut. Der Block war ohne das geringste Zittern, ohne jede Warnung, abgebrochen und hinabgestürzt – Kunga war einfach keine Zeit geblieben, um noch unter ihm hervorzukommen.
Freds sah meinen Gesichtsausdruck und grinste schwach. »Der alte Kunga Norbu ist ziemlich schnell, wenn es sein muß.«
Aber das reichte mir nicht. »Ga gor nee«, sagte ich – und dann zogen Freds und Kunga mich hoch. Laure eilte zu uns hinauf, die Augen groß vor Besorgnis.
»Sehr schlecht«, sagte er.
»Gar«, versuchte ich und kam nicht weiter.
»Schon gut, schon gut«, sagte Freds und umfaßte mein Gesicht mit seinen Handschuhen. »He, George. Entspanne dich.«
»He«, bekam ich heraus, deutete auf die Überreste der Eiszacke und dann auf Kunga.
»Ich weiß«, sagte Freds stirnrunzelnd. Er wechselte einen Blick mit Kunga, der mich ungerührt beobachtete. Sie sprachen auf Tibetanisch miteinander. »Hör zu«, sagte Freds. »Steigen wir über den Paß, und dann erkläre ich es dir. Es wird eine Weile dauern, und es bleibt uns nicht mehr so viel Tageslicht. Außerdem müssen wir einen Weg um diese Eiswürfel finden, damit wir den Leitseilen folgen können. Komm schon, Kumpel.« Er gab mir einen Klaps auf den Arm. »Konzentriere dich. Bringen wir's hinter uns.«
Also kletterten wir weiter, und Kunga führte so schnell wie zuvor. Ich stand jedoch noch immer unter Schock und sah ständig vor mir, wie die Eiszacke mit Kunga darunter zusammenbrach. Er konnte ihr einfach nicht entkommen sein! Und doch war er dort oben vor uns und kletterte die Leitseile hinauf wie ein Affe eine Palme.
Es war ein Wunder. Und ich hatte es gesehen. Ich hatte verdammte Schwierigkeiten, mich den Rest des Tages über auf das Klettern zu konzentrieren.
9
Kurz vor Sonnenuntergang hatten wir den Lho La überwunden und unser Zelt auf dem flachen Ausläufer des Passes auf tiefem hartem Schnee aufgeschlagen. Es war eine der geräumigsten Lagerstätten, die ich je errichtet hatte: auf dem Grat des Himalaja, auf einem breiten Sattel zwischen den höchsten Bergen der Erde und dem sehr spitzen und wunderschönen Lingtren. Unter uns war auf der einen Seite der Khumbu-Gletscher, auf der anderen der Rongbuk-Gletscher in Tibet. Wir waren etwa sechstausendsechshundert Meter hoch, und so hatten Freds und seine Freunde noch ein gutes Stück vor sich, wenn sie zum alten Mallory wollten. Aber nichts über uns würde so willkürlich gefährlich sein wie der Eisfall. Solange das Wetter hielt, heißt das. Bislang hatten wir Glück gehabt; dieser Oktober erwies sich als einer der trockensten seit Jahren.
Es war keine Spur vom englischen Team oder von Arnolds Crew auszumachen, abgesehen von Spuren im Schnee, die um die Seite des Westsattels führten und dann verschwanden. Also waren sie auf dem Weg zum Gipfel.
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