Flucht aus Katmandu
Apotheke führen und es ihm zeigen. Es stellte sich heraus, daß in jedem Kanister mit Wasser, das der Arzt den Kindern gab, ein guter gehäufter Eßlöffel reines tibetanisches Steinsalz enthalten war.
»Oh«, sagte George und nickte. »Na ja, sag ihm, er soll auch noch etwas Zucker hinzufügen.«
Ich übersetzte das dem Arzt, und er nickte. Es stellte sich heraus, daß sie auch noch einen guten Eßlöffel Honig hinzufügten.
»Oh!« sagte George verlegen. »Gut! Schön für ihn! Sag ihm, daß die Weltgesundheitsorganisation genau das empfiehlt!«
Dr. Choendrak nickte und sagte, das sei gut.
Plötzlich schien der Arzt für George ein sehr vernünftiger Bursche zu sein. »Vielleicht haben ihre Medikamente tatsächlich eine antibakterielle Wirkung, und das Salz und der Zucker im Wasser verschafft ihrem Immunsystem mehr Zeit, das Problem in den Griff zu kriegen. Die Kinder brauchen das.«
Bevor wir gingen, bat mich George, Dr. Choendrak von seinem Plan mit der ewigen Flamme zu erzählen – er beschrieb Keramikrohre, einen großen zentralen Ofen im Dorf oder im Kloster selbst und ein Röhrenssystem zu den einzelnen Häusern. Und an den darauffolgenden Tagen begleitete er Dr. Choendrak bei seinen Krankenbesuchen, lenkte die Kinder ab, während sie untersucht wurden, oder hielt sie fest, wenn sie wieder bittere Medizin verordnet bekamen. Und er ließ alle von dem Wasser trinken, das großzügig mit Salz und Zucker versetzt war. Zwischen ihm und dem Arzt kam es zu einer gewissen Übereinkunft, und sie freundeten sich an, obwohl sie kein Wort von dem verstanden, was der andere sagte. Wahrscheinlich waren ihnen dabei ihre medizinischen Theorien eine große Hilfe.
Und in den nächsten Wochen fand die Grippe-Epedemie ein Ende – warum, konnte niemand sagen –, doch es war niemand daran gestorben, und so waren alle mit Dr. Choendrak und den verantwortlichen Gottheiten zufrieden, und auch mit George. George war auch sehr zufrieden, obwohl ihm seine eigene Medizin niemals richtig zu helfen schien und er immer wieder in heller Panik zum Scheißhaus rennen mußte.
Doch danach war er freundlicher zu den Mönchen, was wichtig war, da man überall im Tal auf sie stieß. Man kletterte einen Hang hinauf, um Feuerholz zu sammeln, und sah auf das Braun und Grau und Grün der Gersten-Terrassen hinab, und da waren dann überall diese kastanienbraunen Flecke. Mönche.
Auf die gleiche Art und Weise paßten sie sich in die Gesellschaft ein – man sah sie überall, wußte aber niemals genau, was sie taten. Sie waren weder unbedingt Autoritätspersonen noch diese Heiliger-als-du-Typen, die unsere Prediger meistens sind, Männer, die jedes Gespräch auf Erden einfach zum Erliegen bringen können, indem sie sich lediglich unerwartet hinzugesellen – nein, hier waren die Mönche und die kleinere Gruppe der Nonnen ins Leben einbezogen; sie arbeiteten auf den Feldern, stapelten Yakdung, nachdem er zum Trocknen in die Sonne gelegt worden war, und lachten über grobe Witze. Es fiel George oder irgendeinem anderen Abendländer schwer, dies zu verstehen; schließlich kommen wir ja aus einer Welt, in dem die Religion größtenteils ignoriert oder als Tarnung für Diebstahl benutzt wird. Deshalb waren auch so viele Menschen so schnell bereit, die Lügen zu glauben, die die Chinesen über Tibet verbreiteten, das Zeug über eine böse Priesterschaft, die mit ihren Steuern elende Leibeigene in die Armut trieb. So wäre es vielleicht in unserem System vonstatten gegangen; in der Tat ist das, wo ich nun darüber nachdenke, eine ziemlich gute Beschreibung des Fernseh-Evangelismus. Und es paßte den Chinesen natürlich verteufelt gut in den Kram, die nun, da wir in die andere Richtung sahen, die Tibetaner nicht nur foltern, ermorden, versklaven, vergewaltigen, einkerkern und aushungern, sondern auch allen sagen konnten, daß all das nur zum eigenen Nutzen der Tibetaner geschah. Um sie vor sich selbst zu retten.
Und da wir eher den Chinesen als den Tibetanern ähneln, kauften wir es ihnen ab. Schließlich hatten wir vor noch gar nicht so langer Zeit dasselbe mit der älteren religiösen Kultur ›unseres Landes‹ getan, und so wollten wir den Chinesen glauben oder zumindest nicht darüber nachdenken. Auch George, der über die gesamte Südseite des Himalaja latschte und sich an den unglaublichen Bergen erfreute, wollte natürlich nichts über den Völkermord wissen, der auf der Nordseite vonstatten ging. Wer in den vierziger Jahren in den
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