Flucht aus Katmandu
Geräusch eines Gesangs aus einem der tieferen Stockwerke einzulassen.
Der Mönch ging, und nach einer Weile trat ein anderer ein. Dann sah ich das Gesicht des neuen Mönchs und begriff, daß es Sucandra war, der Manjushri Rimpoche.
Ich hatte ihn nie zuvor gesehen, doch ich wußte es. Ich wünschte, ich könnte erklären, wieso. Er war eine Reinkarnation, ein Tulku wie Kunga Norbu, nur unendlich mächtiger – er war die Reinkarnation des Padma Sambhava, des indischen Yogi, der im achten Jahrhundert den Buddhismus nach Tibet gebracht hatte, und er war auch der Manjushri Bodhisattva, der Bodhisattva der Weisheit, was bedeutete, daß er sich schon an die Grenze des Nirwana hochgearbeitet, sich dann aber entschlossen hatte, in nachfolgenden Inkarnationen in menschlicher Form zurückzukehren, nur um anderen Menschen auf den Weg zu helfen.
Diesmal sah er wie jeder andere Mönch auch aus. Alt, den Kopf glattrasiert, das Gesicht zu jener Landkarte der Falten zerfurcht, die alte Himalaja-Gesichter schließlich annehmen. Doch der Blick in seinen Augen – dieses ruhige und freundliche Lächeln! Wenn man sich nicht in seiner Gegenwart befand, konnte man nur schwer den Finger darauflegen, doch mit ihm in einem Zimmer bestand kein Zweifel daran – ein Gefühl floß aus ihm hinaus und in uns hinein, sowohl scharf als auch beruhigend. Belebend – als habe sich die kühle, sonnige Morgenluft plötzlich in einen Daseinzustand verwandelt.
Er bat uns, Platz zu nehmen, auf Englisch mit einem starken britischen Akzent. Er klang wie der Großvater unseres Kumpels Trevor. Wir setzten uns, und er kam mit einem Tablett hinüber und goß uns heißen Tee ein, ohne Yakbutter darin.
Wir tranken den Tee und unterhielten uns. Er fragte uns nach unserem Leben in Nepal und in den Staaten und ließ uns erzählen, wie wir mit Kunga Norbu den Chomolungma bestiegen hatten, wobei er oft lachte. »Der Diamantpfad ist schwer«, sagte er. »Die Mutter Göttin bestiegen! Dennoch, das ist besser, als mit einem Schuh auf den Kopf geschlagen zu werden.« Er lachte. »Ich würde ihn gern einmal selbst besteigen.«
Ich sah, wie George überlegte, ob er dem Rimpoche sagen sollte, daß die Mutter Göttin in Wirklichkeit der K2 war – des Rimpoches Gesicht hatte etwas an sich, das einen verleitete, sofort mit der Wahrheit herauszurücken, worüber man auch sprach. Also wechselte ich schnell das Thema. »George hier wird uns helfen, den Bau der Straße nach Chhule zu verhindern«, sagte ich.
Der Rimpoche betrachtete George genauer. Die Aufmerksamkeit, die er einem entgegenbrachte, war intensiv, aber gleichzeitig so mit Freundlichkeit erfüllt, daß man sie unwillkürlich als angenehm empfand. Und seine Stimme war so entspannt. »Das würde uns helfen«, sagte er. »Seit langer Zeit leben wir hier am Ende der Erde, doch die Welt ist gewachsen, bis die Gefahr, entdeckt und überlaufen zu werden, sehr konkret wurde.«
»Das ist gewissermaßen doch schon geschehen, nicht wahr?« sagte George. Er deutete aus dem Fenster, auf das Dorf und die Flüchtlingszelte hinab.
Der Rimpoche nickte. »Gewissermaßen. Aber wir können uns vor unserem Volk nicht verbergen, wenn es in Not ist, in Lebensgefahr. Und wenn die Zeit kommt, werden sie oder ihre Kinder oder die Kinder ihrer Kinder wieder in ihre wahre Heimat zurückkehren. Doch in so großem Maßstab von der Welt entdeckt zu werden – an die Straße nach Katmandu und den Flughafen angeschlossen zu werden …« Er schüttelte den Kopf und sah George an. »Sie wollen uns helfen?«
»Ich bin nicht sicher, ob ich etwas tun kann.«
»Das habe ich nicht gefragt.«
»Nun ja …« George rang mit sich und schaute weg. Schließlich erwiderte er den geduldigen Blick des Rimpoche. »Ja. Das will ich.«
»Na also!« rief ich, und beide lachten.
Danach sprachen sie über andere Dinge. Ich ging auf einen schmalen Balkon, um auf das Dorf hinabzusehen, das in der Morgensonne dampfte. Im Zimmer lachten George und der Rimpoche über etwas, das George gesagt hatte. »Die Chinesen sind eine Prüfung«, antwortete der Rimpoche. »Wir müssen auch sie lieben.«
»Freds sagt, daß sie als Blutegel wiedergeboren werden«, sagte George.
Und sie lachten und unterhielten sich. Ich ging wieder hinein und gesellte mich zu ihnen. Einmal beugte der Rimpoche sich vor, um unsere Teetassen neu zu füllen, wobei er sich wie ein Tänzer bewegte, der das Füllen von Teetassen darstellte. Sie hatten wieder über die Straße gesprochen, und er
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