Flucht aus Katmandu
murmelte wie zu sich selbst vor sich hin. »Der Reine ist angesichts des Unreinen machtlos. Nur der Heilige behält die Oberhand.«
Stille Minuten, im Sonnenschein am Tee nippen – so verbringt man Zeit mit einem Bodhisattva, und während man es tut, begreift man auch, wieso.
Danach, auf unserem Weg hinab, schwieg George. Erst, als wir das Kloster verlassen hatten, sagte er: »Weißt du, ich habe ihn gefragt, wie alt er ist.«
»Ach ja?«
»Ja, wärest du nicht neugierig? Er ist hundertundzwanzig, Freds. Hundertundzwanzig Jahre alt.«
»Das ist ziemlich alt.«
»Er sagt, er wird in drei Jahren sterben. Er sagt, wenn er in Tibet wiedergeboren werde, wie es normalerweise der Fall ist, wäre die nächste Inkarnation mit Sicherheit eine sehr seltsame.«
»Er sollte sich einen anderen Ort aussuchen.«
»Das habe ich ihm auch vorgeschlagen, doch er meinte, das sei gar nicht so einfach. Das Bardo ist ein dunkler und gefährlicher Ort. Er sagte mir, damals in den vierziger Jahren habe ein Lama einmal versucht, sich als König von England zu reinkanieren …«
»Als Prinz Charles? Das erklärt einiges.«
»Nein, er hat ihn verfehlt. Hat sich verirrt. Der Rimpoche glaubt, er muß als Colonel John wiedergeboren worden sein. Deshalb kam der Colonel nach Tibet, hat im Widerstand gekämpft und weiß jetzt über seine Vergangenheit nicht mehr so recht Bescheid.«
»Das würde es erklären.«
»Allerdings. Obwohl ich immer noch glaube, es liegt daran, daß er nach einer Verletzung des Sprachzentrums im Gehirn versucht, eine neue Sprache zu lernen.«
»Hast du das dem Rimpoche gesagt?«
»Nein. Aber ich wünschte, ich hätte es.«
Und dann tauchte am nächsten Nachmittag Colonel John auf, wie er eine Reihe Ponies über den Paß führte, und das zweite Pony trug die jüngste Schwester des Dalai Lama. Plötzlich liefen alle Dorfbewohner aus ihren Häusern und die Hänge hinab, kamen von talabwärts und talaufwärts zusammengelaufen und scharten sich um die Prozession, bis die Ponys sich nicht mehr bewegen konnten, und alle schrien, die Schwester der Dalai Lama und ihre Begleiter schrien, Colonel John schrie, alle riefen ihren Namen, und Tränen liefen wie Monsunregen ihre Gesichter hinab. George und ich standen ein Stück abseits und kamen uns vor, als seien wir versehentlich in eine Familienfeier geplatzt, ein Wiedersehen, mit dem keiner mehr wirklich gerechnet, auf das aber alle gehofft hatten.
Später wurden wir zu Pema Gyalpo, der Schwester des Dalai Lama, geführt und vorgestellt. Sie sprach ausgezeichnet Englisch und wirkte äußerst glücklich, hier im Tal zu sein. Sie lachte und gab jedem von uns die traditionelle weiße Sichel des Willkommens und ein kleines Bild des Dalai Lama, und wir hatten ein großes Festessen, und alle Einheimischen trugen ihre besten Sonntagsgewänder und all ihren Schmuck, den sie vorher an ihre Verwandten verliehen hatten, so daß jeder etwas trug, und wir tranken Chang und saßen an den Öfen und sangen bis spät in die Nacht. George und ich kannten die Lieder nicht, und so tranken wir Chang und summten zu jeder Note ein tiefes Auoum, summten, bis wir praktisch bewußtlos zusammenbrachen. George hielt sein Porträt des Dalai Lama in der Hand, und dann und wann sah er es an und sagte: »Jetzt verstehe ich, warum die Chinesen nicht zulassen, daß die Touristen in Tibet Phil Silvers-T-Shirts tragen. Sieh dir das an!«
Und am nächsten Morgen saßen wir auf den Felsen, von denen man die heiße Quelle überblicken konnte. Wasser floß die steinerne Rinne in den leeren Wäscheteich hinab, und Dampf stieg auf, trieb zu den Farnen und Moosen und überzog sie mit einer feinen Tauschicht. Talabwärts erwachte das Dorf gerade; graubrauner Rauch erhob sich von den Dächern aus dem Schatten des Berges in die Sonne, wo er eine helle, goldene Färbung annahm, und George wandte sich mir zu und sagte: »Mal sehen, was wir wegen dieser Straße unternehmen können.«
Also kehrten wir nach Katmandu zurück, marschierten tagelang und wurden dann von Colonel John gefahren, der bei einer Familie im Dorf am Ende der Straße einen Land Rover untergestellt hatte. Wir gruben ihn aus einem Turm Yakdünger aus, und er fuhr uns schneller, als es mir recht war, die schweizerische Straße entlang, schaltete den Landrover bei jeder Haarnadelkurve auf Allradantrieb um und machte den Eindruck, als hätte er es vorgezogen, die S-Kurven völlig zu ignorieren und schnurstracks den Berg hinabzufahren und die Straße
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