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Flucht aus Katmandu

Titel: Flucht aus Katmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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Bayerischen Alpen herumtollte, hat sich schließlich auch nicht über diese Rauchwolken am Horizont gewundert.
    Also brauchte er eine Weile, um darauf zu kommen. Zeit, die er damit verbrachte, Kartoffeln zu pflanzen, Terrassenwände zu reparieren und Feuerholz zu sammeln, während ein Mönch oder eine Nonne in der Menge an seiner Last schleppte und Witze riß. Er mußte eine Weile jeden Tag bei Dämmerung die Gesänge hören oder sehen, wie ein Bauer auf seinem Feld meditierte, oder Frauen Mani-Steine schlugen, oder Kinder mit dem Feuerholz, das sie auf dem Rücken trugen, die Gebetsmühlen drehten. Er mußte eine Weile beobachten, wie sich alle in die gemeinsame Arbeit einfügten, ohne darüber zu palavern, wer nun was zu tun hatte. Es dauerte eine Weile, bis er die familiären Verhältnisse durchschaut und herausgefunden hatte, daß es in jeder Familie Mönche oder Nonnen gab; daß die Mönche nicht Mönche wurden, weil ihre Väter ebenfalls welche waren, sondern Generation für Generation aus den Bauern kamen; daß die Klöster hofften, die Besten und Klügsten zu bekommen, aber auch die Schwachen und Behinderten nahmen, und natürlich auch die Spinner bekamen, die religiösen Raumkadetten. All diese kastanienbraunen Punkte im Braun und Grün, die der Szene die letzten Farbtupfer verliehen – als George das sah und verstand, sah er alles mit anderen.Augen.
    Und so sagte ich zu Kunga Norbu: »Kannst du ihm nicht ein paar Extras zeigen, etwas Magie aus Shambhala, um ihm den letzten Anstoß zu geben?«
    Woraufhin Kunga Norbu sagte: »Freds, wie üblich verstehst du wieder alles falsch. Wir machen die tantrischen Übungen nicht, um andere Leute zu beeindrucken. Doch er darf gern den Manjushri Rimpoche in seinen Kammern besuchen. Und nächste Woche stattet uns die jüngste Schwester des Dalai Lama einen Besuch ab. Er wird dabei sein.«

    Schon am nächsten Tag, ganz früh am Morgen, führte ich George zu seiner Audienz bei Sucandram, dem Manjushri Rimpoche und König von Shambhala, Ämter, die im tibetanischen Buddhismus denen der Dalai und Panchen Lamas entsprachen.
    Wir wurden aus dem gelben Licht des Morgens durch einen Sandelbaumhain und dann in die tieferen dunklen Kammern des Klosters Kaiapa geführt und gingen zwischen dicken Holzbalken einher, die Jahrhunderte des Rauchs aus Holzöfen und Butterlampen schwarz gefärbt hatte. Jeder Balken auf dieser Etage war mit Festmasken geschmückt, jede ein grellbuntes, glotzäugiges, zahnbewehrtes Dämonengesicht, schwer auf Grün und Rot und Gelb, mit blauen, weißen und goldenen Klecksen. Bönpa- Alpträume waren es, die unheimlichsten Gesichter, die ich je gesehen hatte. Als ich sie sah, wunderte ich mich nicht mehr, warum man den Buddha in Tibet so herzlich Willkommen geheißen hatte.
    Dann ging es eine Treppenflucht nach der anderen hinauf, denn Kaiapa war ein Dzong, eine Klosterfestung, erbaut in jenen Tagen, als man noch Invasionen von Dschingis Khan oder Alexander dem Großen befürchten mußte. Also hockte sie auf einem steilen, felsigen Vorsprung der Talwand und sah aus wie ein eckiger Auswuchs des Grats selbst. Jede Ebene war von der darunter zurückgesetzt, und als wir auf steilen, gut ausgetretenen Treppen höherstiegen, kamen wir an immer größeren Räumen vorbei, und in jeden neuen fiel mehr Licht ein als in den darunter. Wir gingen durch die Bibliothek, in der Tausende Bände des Kalacakra und des Tengyur an den Wänden standen – kleine, breite, dicke, schwarz eingebundene Bände, die ursprünglich aus einzelnen Blättern bestanden hatten, und Schriftrollen in Schachteln, wie Klaviernoten. Dann durch ein Musikzimmer, in dem Trommeln, Becken und lange Hörner aufbewahrt wurden. Dann hinauf in den bislang sonnigsten Raum, in dem die Wände weiß getüncht waren und der glatte Holzboden von einem Sandgemälde mit einer Mandala in der Mitte geschmückt wurde. »Was ist das?« fragte George, der hineinsah, als wir vorbeigingen.
    »Das war Essas Zimmer«, erklärte ich ihm.
    »Essa?«
    »Jesus, du weißt schon.«
    Keine Antwort von George.
    Schließlich wurden wir in den Raum geführt, bei dem es sich um den höchsten in Kaiapa zu handeln schien. Seine Wände waren mit Teppichen behangen, die in hellen Mandala-Mustern die Geschichte des tibetanischen Buddhismus zeigten. Ansonsten war das Zimmer leer. Die südliche Wand bestand aus großen Schiebetüren, und der Mönch, der uns hinaufgeführt hatte, schob sie zurück, um die kühle, scharfe Morgenluft und das

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