Flucht aus Lager 14
ehemaligen Häftlingen. Nach ihren Aussagen gingen die Frauen, die sich mit Wärtern einließen in der Hoffnung, Zusatzrationen zu erhalten oder leichtere Arbeit zugewiesen zu bekommen, ein hohes Risiko ein. Sobald sie schwanger wurden, verschwanden sie.
Eine »Belohnungsehe« war die einzige sichere Möglichkeit, das Verbot sexueller Kontakte zu umgehen. Eine Heirat wurde den Häftlingen als die höchste Prämie für harte Arbeit und verlässliche Denunziationen in Aussicht gestellt. Männer kamen hierfür ab 25, Frauen ab 23 Jahren in Frage. Die Wärter kündigten die Hochzeiten drei- bis viermal im Jahr an; gewöhnlich fielen sie auf besondere Tage, etwa Neujahr oder den Geburtstag von Kim Jong Il. Weder die Braut noch der Bräutigam hatten ein Mitspracherecht bei der Bildung der Paare. War einer oder eine der Ausgewählten mit dem für ihn oder sie bestimmten Partner aus welchen Gründen auch immer nicht zufrieden, konnte es vorkommen, dass die Wärter die Hochzeit absagten. In diesem Fall erhielten weder die Frau noch der Mann eine zweite Chance.
Shins Vater, Shin Gyung Sub, erzählte seinem Sohn, dass die Wärter ihm Jang als Frau zugedacht hatten, weil er ein besonderes Geschick bei der Bedienung der Drehbank in der Maschinenhalle des Lagers hatte. Shins Mutter erzählte ihm nie, weshalb sie für die Ehe auserwählt worden war.
Doch für sie wie für viele andere Bräute im Lager war die Heirat eine Art Beförderung. Mit ihr war eine etwas leichtere Arbeit verbunden und eine bessere Unterkunft – im »Musterdorf«, wo es eine Schule und ein Krankenhaus gab. Bald nach ihrer Hochzeit zog sie aus einem überfüllten Schlafsaal für Frauen in der Textilfabrik des Lagers dorthin um. Außerdem erhielt sie eine begehrte Arbeitsstelle in einem nahe gelegenen landwirtschaftlichen Betrieb, wo man Mais, Reis und frisches Gemüse »organisieren« konnte.
Nach seiner Hochzeit erhielt das Paar die Erlaubnis, fünf Nächte hintereinander zusammen zu verbringen. Von da an durfte Shins Vater, der weiterhin in einer Unterkunft neben seiner Arbeitsstelle wohnte, seine Frau mehrmals im Jahr besuchen. Im Verlauf ihrer Ehe brachte Jang zwei Söhne auf die Welt. Der Ältere, He Geun, wurde 1974 geboren; Shin kam acht Jahre später zur Welt.
Die Brüder kannten einander kaum. Als Shin geboren wurde, besuchte sein Bruder zehn Stunden täglich die Grundschule. Als Shin vier Jahre alt war, zog sein zwölfjähriger Bruder aus dem Haus aus und lebte, den Lagervorschriften entsprechend, von nun an in einer Sammelunterkunft.
Shin konnte sich daran erinnern, dass sein Vater gelegentlich am späten Abend zu seiner Frau kam und sie am frühen Morgen wieder verließ. Seinem jüngeren Sohn schenkte er nur wenig Beachtung, und Shin stand seinen seltenen Besuchen gleichgültig gegenüber.
In den Jahren nach seiner Flucht aus dem Lager lernte Shin, dass viele Menschen Wärme, Geborgenheit und Zuneigung mit den Worten »Mutter«, »Vater« und »Bruder« in Verbindung bringen. Er nicht. Die Wärter hatten ihm und den anderen Kindern im Lager immer wieder gesagt, sie seien wegen der »Sünden« ihrer Eltern im Lager. Man sagte ihnen auch, sie müssten sich zwar fortwährend schämen wegen ihrer treulosen Herkunft, sie könnten es jedoch schaffen, ihre angeborene Sündhaftigkeit »abzuwaschen«, indem sie hart arbeiteten, den Wärtern Gehorsam leisteten und ihnen über ihre Eltern Bericht erstatteten. Die zehnte Vorschrift des Lagers forderte, dass ein Häftling in jedem Wärter aufrichtig seinen Lehrer sehen müsse. Das leuchtete Shin ein. Während seiner Zeit als Kind und als Heranwachsender waren seine Eltern überarbeitet und abweisend und redeten wenig mit ihm.
Shin war ein abgemagertes, in sich gekehrtes und die meiste Zeit hindurch einsames Kind ohne Freunde, dessen einzige Quelle der Gewissheit die Ermahnungen der Wärter waren, sie könnten sich von ihrer Sünde dadurch befreien, dass sie ihre Eltern denunzierten. Seine Vorstellungen von Richtig und Falsch wurden allerdings immer wieder verwirrt, wenn er Zeuge von Begegnungen zwischen seiner Mutter und den Wärtern wurde.
Shin war gerade zehn Jahre alt, als er eines Abends das Haus verließ und seine Mutter suchte. Er hatte Hunger, und es war die übliche Zeit, zu der sie das Abendessen zubereitete. Er ging zu einem nahe gelegenen Reisfeld, auf dem seine Mutter arbeitete, und fragte eine Frau, ob sie sie gesehen habe.
»Sie putzt das Büro vom Bowijidowon «, erhielt er zur
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