Flucht aus Lager 14
man die Schulkinder immer wieder zum Holzsammeln schickte, aß Shin Hände voll wilder Weintrauben, Stachelbeeren und Himbeeren.
Im Winter, Frühling und Frühsommer gab es spürbar weniger zu essen. Der Hunger trieb ihn und seine Altersgenossen dazu, Methoden zu versuchen, von denen die älteren Häftlinge im Lager behaupteten, sie könnten das grimmige Magenknurren lindern. Sie nahmen ihre Mahlzeiten ohne Wasser oder Suppe zu sich, weil es hieß, dass die Flüssigkeit den Verdauungsprozess im Magen beschleunige, so dass sich der nagende Hunger sehr bald wieder bemerkbar machte. Darüber hinaus bemühten sie sich, ihren Stuhl möglichst lange zu verhalten, weil sie glaubten, dass auf diese Weise ihr Sättigungsgefühl länger anhalten werde, so dass sie nicht dauernd ans Essen denken mussten. Eine weitere Technik zur Bekämpfung des Hungergefühls bestand darin, das Wiederkäuen der Kühe nachzuahmen und das eingenommene Essen zu erbrechen und erneut hinterzuschlucken. Shin versuchte es für kurze Zeit mit diesen Methoden, aber sie konnten sein Hungergefühl nicht lindern.
Die Sommerzeit, in der die Kinder auf die Felder geschickt wurden, um beim Pflanzen und Unkrautjäten zu helfen, war die Zeit, in der man die meisten Ratten und Mäuse fangen konnte. Shin erinnert sich daran, dass er jeden Tag welche fing und verspeiste. Die glücklichsten und befriedigendsten Augenblicke seiner Kindheit stellten sich ein, wenn er einen vollen Magen hatte.
Das »Essensproblem«, wie man in Nordkorea immer wieder den Hunger umschreibt, ist nicht auf die Lagerhäftlinge des Landes beschränkt. Es hat die körperliche Verfassung von Millionen Nordkoreanern schwer geschädigt. Männliche Jugendliche, die in den letzten zehn Jahren aus Nordkorea geflüchtet sind, waren im Durchschnitt zwölf Zentimeter kleiner und wogen elf Kilogramm weniger als ihre Altersgenossen in Südkorea. 7
Die geistige Unterentwicklung junger Nordkoreaner, bedingt durch die Unterernährung in früher Kindheit, führt dazu, dass etwa ein Viertel der zum Militär eingezogenen Männer geistig untauglich ist. Ermittelt hat dies der National Intelligence Council, ein Forschungsinstitut der US -Geheimdienste. Wie es in dem Bericht heißt, hätten die durch Unterernährung bedingten geistigen Defizite unter den jungen Menschen wahrscheinlich eine Beeinträchtigung des wirtschaftlichen Wachstums auch dann zur Folge, wenn Nordkorea sich dem Ausland öffnen oder mit Südkorea vereinigen sollte.
Seit den 1990er Jahren ist Nordkorea nicht mehr in der Lage, ausreichende Mengen Nahrungsmittel für seine Bevölkerung zu produzieren, zu kaufen oder zu verteilen. Der Hungersnot in der Mitte der neunziger Jahre fiel fast eine Million Nordkoreaner zum Opfer.
Eine Besserung der Situation trat ein, nachdem sich Ende der neunziger Jahre die Regierung bereit erklärt hatte, das Angebot internationaler Lebensmittelhilfen anzunehmen. Die Vereinigten Staaten übernahmen den größten Anteil der Lieferungen, obwohl sie weiterhin der am meisten verteufelte Feind Nordkoreas blieben.
Jahr für Jahr müsste Nordkorea über fünf Millionen Tonnen Reis und Getreide produzieren, um eine Bevölkerung von 23 Millionen Menschen zu ernähren. Fast jedes Jahr ist die Produktion um rund eine Million Tonnen zu niedrig. Wegen der langen Winter und hohen Berge fehlt es an geeigneten Anbauflächen, auch weigert sich die Regierung, Anreize für die Bauern zu schaffen, und sie verfügt nicht über ausreichend Devisen, um Benzin oder moderne landwirtschaftliche Maschinen im Ausland zu kaufen.
Mit knapper Not und nur dank der Hilfslieferungen aus Moskau entging das Land über mehrere Jahre hinweg einer weiteren Hungersnot. Als die UdSSR zusammenbrach, endeten die sowjetischen Hilfslieferungen, und Nordkoreas zentrale Planwirtschaft funktionierte nicht mehr. Die kostenlose Versorgung mit Benzin und Diesel für die überalterten Fabriken versiegte, es gab keinen garantierten Absatz mehr für seine häufig kitschigen Waren, und mit dem Zugang zu billigem sowjetischem Kunstdünger, auf den die landwirtschaftlichen Betriebe angewiesen waren, war es auch vorbei.
Einige Jahre lang half Südkorea, die Lücke zu schließen, und versorgte Pjöngjang jährlich mit einer halben Million Tonnen Kunstdünger im Rahmen seiner »Sonnenscheinpolitik«, die den Zweck verfolgte, die Spannungen zwischen den beiden Ländern zu verringern.
Als die neue Regierung in Seoul 2008 die kostenlosen Düngerlieferungen nach
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