Flucht aus Lager 14
Nordkorea einstellte, versuchte die nordkoreanische Regierung, ein »Modell« auf das ganze Land zu übertragen, das bisher nur in den Zwangsarbeitslagern praktiziert wurde. Die Bevölkerung wurde aufgerufen, Toibee herzustellen, einen Dünger, bei dem Asche mit menschlichen Exkrementen vermischt wird. In den letzten Wintern wurden im ganzen Land die gefrorenen Exkremente aus öffentlichen Toiletten in den Städten gesammelt und abtransportiert. Nach Angaben von Good Friends, einer buddhistischen Wohltätigkeitsorganisation mit Informanten in Nordkorea, wurden Fabriken, staatliche Unternehmen und die Bewohner von Mietshäusern verpflichtet, jeweils zwei Tonnen Toibee zu produzieren. Im Frühjahr wurde es im Freien getrocknet und anschließend zu staatlichen landwirtschaftlichen Betrieben transportiert. Doch dieser organische Dünger war längst nicht so wirksam wie der Kunstdünger, der in Nordkorea jahrzehntelang eingesetzt wurde.
Shin, durch einen Hochspannungszaun von der Außenwelt abgeschnitten, erfuhr nichts davon, dass Millionen seiner Landsleute in den neunziger Jahren entsetzlichen Hunger litten.
Weder er noch seine Eltern (soweit Shin wusste) hatten davon erfahren, dass die Regierung größte Schwierigkeiten hatte, die Armee zu ernähren, oder dass Menschen in ihren Wohnungen in nordkoreanischen Großstädten einschließlich der Hauptstadt den Hungertod starben.
Sie hatten auch keine Ahnung, dass Zigtausende Nordkoreaner ihre Heimat verlassen hatten und auf der Suche nach Nahrung bis nach China gewandert waren. Sie kamen auch nicht in den Genuss der Nahrungsmittelhilfe im Wert von Milliarden Dollar für Nordkorea. Während jener chaotischen Jahre, als das Räderwerk der Regierung Kim Jong Ils zum Stillstand kam, schrieben Politstrategen im Westen Bücher mit reißerischen Titeln wie »The End of North Korea« (Nicholas Eberstadt).
Im Lager 14, das sich mit allem Benötigten selbst versorgte und nur gelegentlich Waggonladungen mit Salz von außerhalb erhielt, war das Ende noch lange nicht in Sicht.
Die Häftlinge pflanzten ihren Mais und Kohl selbst an. Als Sklavenarbeiter produzierten sie mit niedrigen Kosten Gemüse, Obst, Süßwasserfische, Schweinefleisch, Uniformen, Zement, Keramik und Glaswaren für die darniederliegende Wirtschaft draußen im Lande.
Shin und seiner Mutter ging es während der Hungersnot elend, sie litten Hunger, aber nicht stärker, als sie es im Lager ohnehin gewohnt waren. Der Junge machte weiter wie bisher, fing Ratten, aß seiner Mutter das Mittagessen weg und erduldete die Schläge, die er dafür bekam.
KAPITEL 2
Schultage
Eines Tages nahm der Lehrer bei den Schülern ohne Ankündigung eine Leibesvisitation vor und durchsuchte bei Shin und jedem der übrigen vierzig Sechsjährigen in der Klasse sämtliche Taschen.
Nachdem die Prozedur beendet war, hielt der Lehrer fünf Maiskörner in der Hand. Sie gehörten alle einem Mädchen, das klein, schmächtig und, wie Shin sich erinnert, besonders hübsch war. Den Namen des Mädchens hat er vergessen, doch alles andere, was an jenem Schultag im Juni 1989 geschah, ist ihm deutlich im Gedächtnis geblieben.
Der Lehrer war bereits schlechter Laune, als er mit dem Durchsuchen der Taschen begann. Als er die Maiskörner entdeckte, wurde er fuchsteufelswild.
»Du kleines Aas, du hast Mais gestohlen? Du willst wohl, dass man dir die Hände abhackt?«
Er befahl dem Mädchen, nach vorn zu kommen und sich vor der Klasse niederzuknien. Er nahm seinen langen Zeigestock aus Holz, holte weit aus und schlug immer wieder auf den Kopf des Mädchens. Während Shin und seine Klassenkameraden schweigend zusahen, bildeten sich auf dem Kopf des Mädchens kleine Schwellungen. Aus seiner Nase floss Blut. Es stürzte auf den harten Betonboden nieder. Shin und andere Schüler hoben das Mädchen auf und trugen es zu seiner Unterkunft auf der Schweinefarm unweit der Schule. Noch am selben Abend starb das Mädchen. In den Regeln von Lager 14 heißt es: »Jeder, der Lebensmittel stiehlt oder versteckt, wird auf der Stelle erschossen.«
Shin hatte die Erfahrung gemacht, dass die Lehrer diese Regel normalerweise nicht so streng nahmen. Wenn sie Lebensmittel in der Tasche eines Schülers fanden, bestraften sie ihn mit ein paar leichten Schlägen mit einem Stock, doch in den meisten Fällen unternahmen sie gar nichts. In der Regel ließen es Shin und die anderen Schüler einfach darauf ankommen. Wie Shin es damals sah, hatte das Mädchen einfach Pech
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