Flucht aus Lager 14
der seiner Mutter das Essen wegaß
Shin und seine Mutter wohnten in den besten Gefangenenunterkünften, die das Lager 14 zu bieten hatte: in einem »Musterdorf« am Rand einer Obstplantage und unmittelbar gegenüber dem Platz, auf dem später seine Mutter gehängt wurde.
In jedem der insgesamt vierzig einstöckigen Gebäude in dem Dorf lebten vier Familien. Shin und seine Mutter hatten ihr eigenes Zimmer, in dem sie nebeneinander auf einem Betonboden schliefen. Die vier Familien teilten sich eine Gemeinschaftsküche, in der eine einzige nackte Glühbirne hing. Elektrischen Strom gab es nur zwei Stunden lang am Tag, von vier bis fünf Uhr morgens und von zehn bis elf Uhr am Abend. Die Fensterscheiben bestanden aus grauem Vinyl, zu trüb, um dahinter etwas sehen zu können. Die Zimmer wurden – nach koreanischer Art – mit einem Kohlenfeuer in der Küche und Rauchabzügen im Fußboden der Zimmer beheizt. Auf dem Gelände des Lagers befanden sich Kohlengruben, so dass Heizkohle stets verfügbar war.
Es gab keine Betten, Stühle oder Tische. Es gab kein fließendes Wasser. Weder ein Bad noch eine Dusche. Häftlinge, die baden wollten, schlichen sich manchmal im Sommer zum Fluss. Etwa dreißig Familien teilten sich einen Brunnen für Trinkwasser, außerdem den Abort, der in eine Hälfte für Frauen und eine für Männer unterteilt war. Nur dort durften die Häftlinge ihre Notdurft verrichten, da die Fäkalien als Dünger für die Lagerfarm verwertet wurden.
Wenn Shins Mutter ihre tägliche Arbeitsnorm erfüllt hatte, konnte sie Lebensmittel für den Abend und den nächsten Tag nach Hause bringen. Um vier Uhr in der Früh machte sie das Frühstück und das Mittagessen für sich und ihren Sohn. Jede Mahlzeit war dieselbe: Maisbrei, eingelegter Kohl und Kohlsuppe. Shin aß dieses Mahl 23 Jahre lang fast jeden Tag, ausgenommen an den Tagen, an denen er zur Strafe nichts zu essen bekam.
Als er noch zu jung war, um zur Schule zu gehen, ließ ihn seine Mutter vormittags öfter allein zu Haus und kam zum Mittagessen vom Feld zurück. Shin war immer hungrig, und sobald seine Mutter frühmorgens das Haus verlassen hatte, machte er sich bereits über das ihm zugedachte Mittagessen her.
Danach aß er auch ihre Portion.
Kam sie dann um die Mittagszeit zurück und fand kein Essen mehr vor, wurde sie wütend und schlug ihren Sohn mit einer Hacke oder einer Schaufel, mit allem, was gerade zur Hand war. Manchmal waren ihre Schläge so heftig wie jene, die er später von den Wärtern erhielt.
Dennoch nahm Shin so oft und so viel vom Essen seiner Mutter, wie er bekommen konnte. Er kam gar nicht auf die Idee, dass sie hungrig bleiben musste, wenn er ihre Portion aufaß. Jahre später, als sie schon länger tot war und er in den Vereinigten Staaten lebte, erzählte er mir, dass er seine Mutter liebe. Doch das war eine nachträgliche Empfindung. Er hatte sie erst, nachdem er gelernt hatte, dass ein zivilisiertes Kind seine Mutter lieben müsse. Als er noch im Lager lebte – und wegen seiner Nahrung völlig von ihr abhängig war, ihr Essen wegaß und ihre Schläge ertrug –, sah er in ihr nur eine Konkurrentin im Kampf ums Überleben.
Ihr Name war Jang Hye Gyung. In seiner Erinnerung war sie klein, etwas pummelig und hatte starke Arme. Ihr Haar trug sie kurz geschnitten wie alle Frauen im Lager, und sie musste den Kopf mit einem weißen, zu einem Dreieck gefalteten Tuch bedecken. Shin entdeckte ihr Geburtsdatum – 1. Oktober 1950 – auf einem Dokument, das er während seiner Vernehmung im unterirdischen Gefängnis sah.
Sie sprach mit ihm nie über ihre Vergangenheit, ihre Familie oder den Grund, warum sie im Lager war, und er fragte sie auch nie danach. Seine Existenz als ihr Sohn war von den Wärtern arrangiert worden. Diese hatten sie und den Mann, der Shins Vater wurde, als Prämien füreinander im Rahmen einer »Belohnungsehe« ausgewählt.
Unverheiratete Männer und Frauen schliefen voneinander getrennt in eigenen Schlafräumen. Die achte Vorschrift im Lager 14, die Shin auswendig lernen musste, lautete: »Sollte es ohne vorherige Erlaubnis zu sexuellen Kontakten kommen, werden die Täter auf der Stelle erschossen.«
In anderen nordkoreanischen Arbeitslagern galten dieselben Vorschriften. Sollte ein unerlaubter Sexualverkehr eine Schwangerschaft oder eine Geburt zur Folge haben, wurden die Frau und das Neugeborene in der Regel getötet. Das ergab sich aus meinen Interviews mit einem ehemaligen Lagerwärter und mehreren
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