Flucht aus Lager 14
Schüler notieren, warum es ihnen nicht möglich gewesen war, hart zu arbeiten und sich an die Vorschriften zu halten.
Shin lernte das Addieren und Subtrahieren, aber nicht das Multiplizieren und Dividieren. Wenn er heute Zahlen miteinander multiplizieren muss, addiert er noch immer eine ganze Zahlenkolonne.
Das Fach Körperertüchtigung beschränkte sich darauf, die Schüler im Schulhof herumlaufen und an Eisengittern klettern zu lassen. Manchmal gingen die Schüler hinunter zum Fluss und sammelten dort Schnecken für den Lehrer. Ballspiele gab es nicht, und Shin sah einen Fußball zum ersten Mal mit 23 Jahren, nachdem er nach China geflohen war.
Die langfristigen Ziele der Schule für die Schüler konnte man nur indirekt aus dem erschließen, was die Lehrer absolut nicht unterrichteten. Sie sagten den Schülern, Nordkorea sei ein unabhängiger Staat und es gebe in diesem Land Automobile und Züge. (Das war keine großartige Enthüllung, da Shin bereits Wärter in ihrem Wagen gesehen hatte und weil das Lager in der Südwestecke über einen Bahnhof verfügte.) Dagegen informierten die Lehrer die Schüler nicht über die geografische Lage des Landes, die Nachbarstaaten, seine Geschichte oder seine Führer. Shin hatte lediglich eine vage Vorstellung, wer eigentlich der Große Führer und wer der Geliebte Führer war.
Fragen zu stellen war in der Schule nicht erlaubt, sie machten die Lehrer wütend und zogen Schläge nach sich. Die Lehrer redeten, die Schüler hörten zu. Durch Auswendiglernen im Unterricht beherrschte Shin das Alphabet und die Grundzüge der Grammatik. Er lernte auch, wie man die Wörter aussprach, hatte jedoch häufig keine Vorstellung, was sie bedeuteten. Sein Lehrer ermutigte ihn nicht, aus eigenem Antrieb seine Kenntnisse zu erweitern.
Shin kam niemals in Kontakt mit einem Klassenkameraden, der außerhalb des Lagers geboren wurde. Soweit er wusste, blieb die Schule Kindern wie ihm vorbehalten, den Produkten der Belohnungsehen. Man sagte ihm, dass die Kinder, die außerhalb des Lagers geboren und zusammen mit ihren Eltern in das Lager verbracht wurden, keinen Schulunterricht erhielten und nur in den besonders abgelegenen Teilen des Lagers, den Tälern Nr. 4 und Nr. 5, wohnten.
So war es für die Lehrer ein Leichtes, die Meinungen und Wertvorstellungen der Schüler zu beeinflussen, ohne dass sie von anderen Kindern in Frage gestellt wurden, die möglicherweise manches über eine Welt wussten, die anders war als die des Lagers.
Es war kein Geheimnis, was Shin und seine Klassenkameraden für ihre Zukunft zu erwarten hatten. Die Grund- und die weiterführende Schule bereiteten sie auf schwere Arbeit vor. Im Winter schippten die Kinder Schnee, fällten Bäume und schaufelten Kohlen zum Heizen der Schule. Die gesamte Schülerschaft (rund tausend Schüler) wurde aufgeboten, um die Aborte in der Bowiwon -Siedlung zu säubern, der Siedlung, in der die Wärter wohnten, manche von ihnen mit Frau und Kind. Shin und seine Klassenkameraden gingen von Haus zu Haus, schlugen die gefrorenen Exkremente mit Hacken in Stücke und luden sie mit bloßen Händen (für die Lagerhäftlinge gab es keine Handschuhe) auf Gestelle, die sie auf die Felder in der Umgebung zerrten oder auf dem Rücken dorthin trugen.
An wärmeren, glücklicheren Tagen wanderte Shins Klasse, nachdem der Schulunterricht am Nachmittag beendet war, gelegentlich zu den Hügeln und Bergen jenseits der Schule, um Nahrung und Kräuter für ihre Wärter zu sammeln. Obwohl es gegen die Vorschriften war, stopften sie häufig verschiedene Farnkräuter unter die Uniformen und brachten sie ihren Müttern daheim, die eine Beilage daraus zubereiteten. Im April pflückten sie essbare Blätterpilze, im Oktober suchten sie Weiße Matsutake. Bei diesen langen nachmittäglichen Wanderungen durften die Kinder miteinander sprechen, und die strikte Trennung zwischen Mädchen und Jungen wurde gelockert, wenn sie miteinander arbeiteten, kicherten und spielten.
Shin kam mit zwei weiteren Kindern aus seinem Dorf in die erste Klasse der Grundschule – dem Jungen Hong Sung Jo und dem Mädchen Moon Sung Sim. Fünf Jahre lang gingen sie gemeinsam zur Schule und saßen im selben Klassenzimmer. In der höheren Schule verbrachten sie noch einmal fünf Jahre zusammen.
Für Shin war Hong Sung Jo sein engster Gefährte. Sie spielten in den Unterrichtspausen mit Steinen und Nüssen. Ihre Mütter arbeiteten im selben landwirtschaftlichen Betrieb. Dennoch lud keiner der beiden
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