Flucht aus Lager 14
Jungen den anderen zum Spielen zu sich nach Hause ein. Das Vertrauen unter Freunden wurde vergiftet durch die fortwährende Konkurrenz um Nahrung und durch den Druck, andere zu denunzieren. In dem Bemühen, zusätzliche Essensrationen zu ergattern, verrieten die Kinder den Lehrern und Wärtern, was ihre Nachbarn aßen, wie sie sich kleideten und was sie gesagt hatten.
Die kollektive Bestrafung in der Schule sorgte ebenfalls dafür, dass die Klassenkameraden sich misstrauten. Shins Klasse musste in mehr oder weniger großen Abständen eine gewisse Menge Eicheln sammeln oder eine bestimmte Zahl von jungen Bäumen pflanzen. Wenn sie die vorgegebene Quote nicht erreichten, wurden alle in der Klasse bestraft. Die Lehrer befahlen Shins Klasse, ihre Mittagsration (für einen Tag oder manchmal auch für eine ganze Woche) an eine andere Klasse abzutreten, die ihre Quote erfüllt hatte. Bei Arbeitsaufgaben war Shin gewöhnlich langsam und oftmals der Letzte.
Als Shin und seine Klassenkameraden älter wurden, nahmen ihre täglichen Arbeitsaufträge, die »Demonstrationen der Anstrengung«, wie sie genannt wurden, an Umfang und Schwierigkeit zu. Während des »Kampfs gegen das Unkraut«, der zwischen Juni und August geführt wurde, jäteten die Schüler der Grundschule von vier Uhr früh bis zum Einbruch der Dunkelheit das Unkraut auf den Mais-, Bohnen- und Hirsefeldern.
Als Shin und seine Klassenkameraden in die höhere Schule wechselten, konnten sie nur bruchstückhaft lesen und schreiben. Doch der Unterricht im Klassenzimmer war jetzt beendet und aus den Lehrern wurden Aufseher. Die höhere Schule war ein Sammelplatz für Arbeitsgruppen in Bergwerken, auf den Feldern und im Wald. In die Schule gingen sie erst am Ende des Arbeitstages wieder, für lange Sitzungen, bei denen Selbstkritik geübt wurde.
Als Shin zum ersten Mal in ein Bergwerk geschickt wurde, war er gerade einmal zehn Jahre alt. Er und fünf Klassenkameraden (zwei Jungen und drei Mädchen, darunter auch seine Schulkameradin Moon Sung Sim) mussten zu Fuß einen steilen Schacht bis zu den Abbaustätten hinuntergehen. Ihre Aufgabe war es, Kohle auf tonnenschwere Förderwagen zu laden und diese auf schmalen Schienen bergauf zu einem Sammelplatz zu schieben. Ihre tägliche Norm waren vier solcher Ladungen.
Für die beiden ersten Ladungen brauchten sie den ganzen Vormittag. Nach einem Mittagessen aus Maisbrei und gesalzenem Kohl gingen die erschöpften Kinder, inzwischen ganz von Kohlenstaub bedeckt, wieder hinunter in den Schacht. Das einzige Licht bei ihrer Arbeit waren brennende Kerzen.
Eines Tages, als sie den dritten Wagen nach oben schoben, verlor Moon Sung Sim das Gleichgewicht, und einer ihrer Füße geriet unter eines der stählernen Räder. Shin, der ihr am nächsten stand, hörte einen Schrei. Er versuchte, dem sich krümmenden, schweißüberströmten Mädchen den Schuh auszuziehen. Ihr großer Zeh war zerquetscht und blutete stark. Ein anderer Schüler band einen Schnürsenkel um ihren Knöchel, um die Blutung zu stillen.
Shin und zwei weitere Schüler hoben Moon in einen leeren Rollwagen und beförderten sie damit nach oben. Von dort trugen sie das Mädchen in das Lagerkrankenhaus, wo ihr zerquetschter Zeh ohne Narkose amputiert und mit Salzwasser behandelt wurde.
Neben der schweren körperlichen Arbeit mussten die älteren Schüler noch mehr Zeit damit verbringen, Fehler an sich selbst und anderen zu beobachten. Sie machten sich Notizen in ihre Hefte aus Maishülsenpapier, um sich auf die Rituale der Selbstbezichtigung vorzubereiten, die jeden Abend nach dem Abendessen stattfanden. Dabei mussten jedes Mal etwa zehn Schüler eigene Fehler bekennen.
Shin versuchte, sich mit seinen Schulkameraden vor der abendlichen Versammlung zu besprechen, wer von ihnen Selbstkritik üben und was konkret angesprochen werden sollte. Sie erfanden Sünden, die die Lehrer zufriedenstellen würden, ohne dass daraufhin drakonische Strafen verhängt würden. Shin erinnerte sich, dass er einmal gestanden hatte, er habe Maiskörner gegessen, die auf dem Boden gelegen hatten, und er habe einmal während der Arbeit ein Nickerchen gemacht, als ihn niemand dabei beobachten konnte. Wenn die Schüler freiwillig eine ausreichende Zahl von Vergehen zugaben, bestand die Strafe in der Regel in einem Schlag auf den Kopf und einer Mahnung, sich mehr anzustrengen.
Eng zusammengepfercht schliefen 25 Jungen auf dem Betonfußboden im Schlafsaal der höheren Schüler. Die stärksten
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