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Flucht aus Lager 14

Flucht aus Lager 14

Titel: Flucht aus Lager 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Harden
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Jungen schliefen in der Nähe – aber nicht zu nahe – eines Heizkanals, der unter dem Boden verlief. Schwächere Jungen, zu denen auch Shin gehörte, schliefen weiter weg und zitterten die ganze Nacht hindurch vor Kälte. Manche hatten keine Wahl und mussten versuchen, direkt über dem Heizkanal zu schlafen – dabei liefen sie Gefahr, sich zu verbrennen, wenn das Heizungssystem ansprang.
    Shin erinnerte sich an einen kräftigen, stolzen zwölfjährigen Jungen namens Ryu Hak Chul. Er schlief, wo er wollte, und er war der Einzige, der den Lehrern freche Antworten gab. Einmal ließ Ryu seine Arbeit einfach liegen und verschwand, was dem Lehrer sogleich hinterbracht wurde. Dieser befahl den Schülern, Ryu zu finden und zu ihm zu bringen.
    »Warum hast du die Arbeit liegen gelassen und bist weggegangen?«, fragte der Lehrer, nachdem man Ryu aufgestöbert und in die Schule zurückgebracht hatte.
    Zu Shins Verblüffung entschuldigte Ryu sich nicht.
    »Ich hatte Hunger und musste etwas essen«, sagte er lakonisch.
    Auch der Lehrer war erstaunt.
    »Gibt dieser Hundesohn Widerworte?«, fragte der Lehrer.
    Er befahl den Schülern, Ryu an einen Baum zu binden. Sie zogen ihm das Hemd aus und banden ihn mit Draht fest.
    »Schlagt ihn, bis er wieder Vernunft annimmt«, sagte der Lehrer.
    Ohne sich etwas dabei zu denken, schlug Shin auf Ryu ein, genau wie seine Schulkameraden.

KAPITEL 3
    Die Spitze der Gesellschaft
    Shin war neun Jahre alt, als er das nordkoreanische Kastensystem schmerzhaft zu spüren bekam.
    Mit vielleicht dreißig seiner Klassenkameraden marschierte er im Frühjahr zur Bahnstation, wohin ihr Lehrer sie geschickt hatte, um Kohlen aufzusammeln, die beim Aufladen von den Waggons gefallen waren. Der Bahnhof liegt in der Südwestecke des Lagers, und um dorthin zu gelangen, mussten die Schüler unterhalb der Bowiwon -Siedlung entlanggehen, die auf einem Felsplateau über dem Fluss Taedong liegt. Die Kinder der Wärter besuchen dort eine eigene Schule.
    Als Shin und seine Schulkameraden unten vorbeigingen, hörten sie, wie die Kinder von oben herabriefen: »Die reaktionären Hundesöhne kommen.«
    Faustgroße Steine prasselten auf die Häftlingskinder herab. Da sich rechts von ihnen der Fluss befand und links über ihnen das Felsplateau, hatten sie keine Möglichkeit, in Deckung zu gehen. Ein Stein traf Shin ins Gesicht, knapp unter dem linken Auge, und riss ihm die Haut auf. Shin und seine Kameraden schrien laut, kauerten sich auf den Weg und versuchten ihren Kopf mit Armen und Händen zu schützen.
    Ein weiterer Stein traf Shin auf den Kopf, so dass er benommen umfiel. Als er wieder klar denken konnte, war der Spuk vorüber. Viele seiner Kameraden stöhnten und bluteten, und Moon, die später bei dem Unfall im Bergwerk ihren großen Zeh verlieren sollte, war bewusstlos. Der Anführer von Shins Klasse, Hong Joo Hyun, war ebenfalls ohnmächtig.
    Vor dem Aufbruch hatte ihr Lehrer ihnen in der Schule gesagt, sie sollten so schnell wie möglich zum Bahnhof marschieren und gleich mit der Arbeit anfangen, er werde später nachkommen. Als er seine Schüler blutend auf der Straße liegen sah, begann er zu schimpfen.
    »Was soll das, dass ihr hier herumliegt, statt euch an die Arbeit zu machen?«, brüllte er.
    Die Schüler fragten zaghaft, was sie mit ihren Kameraden machen sollten, die noch bewusstlos waren.
    »Nehmt sie auf den Rücken und tragt sie«, befahl der Lehrer. »Ihr müsst euch nur ordentlich anstrengen.«
    Wenn Shin in den kommenden Jahren irgendwo im Lager auf Bowiwon -Kinder stieß, drehte er sich auf dem Absatz um und ging möglichst in die entgegengesetzte Richtung.
    Die Bowiwon -Kinder hatten, von ihrem Standpunkt aus gesehen, gute Gründe, auf Kinder wie Shin Steine zu werfen. Er war der Nachkomme von unrettbaren Sündern, damit war sein Blut aufs Schlimmste verdorben. Die Bowiwon -Kinder stammten dagegen von Familien ab, deren Stammbaum vom » Großen Führer« gutgeheißen worden war.
    Um seine vermuteten oder vermeintlichen politischen Gegner zu identifizieren, schuf Kim Il Sung 1957 eine neue, auf Abstammung gegründete Hackordnung. Die Regierung teilte die gesamte nordkoreanische Bevölkerung nach der angenommenen Zuverlässigkeit der Eltern und Großeltern in drei Gruppen ein, die zudem weitgehend voneinander getrennt wurden. Sie bezeichnete Nordkorea zwar als das Arbeiterparadies, doch obwohl sie öffentlich erklärte, dem kommunistischen Ideal der Gleichheit anzuhängen, erfand sie eines der

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