Flucht aus Lager 14
weltweit rigidesten Kastensysteme. Sie schuf drei große Klassen mit 51 Untergruppen: An der Spitze stehen die Mitglieder des loyalen Kerns, die Positionen in der Regierung, der Koreanischen Arbeiterpartei, als Offiziere im Militär und im Geheimdienst erhalten. Zu dieser loyalen Klasse gehören auch Landarbeiter, Familien von Soldaten, die im Koreakrieg gefallen sind, Familien von Soldaten, die unter Kim Il Sung gegen die japanische Besetzung gekämpft haben, und Angestellte der Regierung.
Die zweite Kaste besteht aus den Angehörigen der schwankenden oder neutralen Klasse, zu der die einfachen Soldaten, Techniker und Lehrer zählen. Zur dritten und untersten Kaste gehören jene, die man verdächtigt, in Opposition zum Regime zu stehen: ehemalige Grundbesitzer, Verwandte von Koreanern, die nach Südkorea geflohen sind, Christen und solche, die in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg für die japanische Kolonialregierung gearbeitet haben. Ihre Nachkommen arbeiten jetzt in Kohlengruben und Fabriken. Ihnen wird der Zugang zu Hochschulen verweigert.
Neben der Kontrolle von Aufstiegschancen bestimmt das System auch darüber, wo die Angehörigen der einzelnen Kasten ihren Wohnsitz nehmen dürfen. Die Mitglieder der loyalen Klasse haben die Chance, in Pjöngjang und Umgebung zu wohnen. Viele Angehörige der feindseligen Klasse wurden in abgelegene Provinzen entlang der chinesischen Grenze umgesiedelt. Manche Angehörige der schwankenden Klasse können im System aufsteigen, indem sie zur Koreanischen Volksarmee gehen, sich dort auszeichnen und mit Glück und guten Verbindungen eine untere Stufe in der herrschenden Partei erreichen.
Außerdem gelangten dank eines rapiden Aufschwungs der privaten Märkte kurz vor der Jahrtausendwende Händler aus der schwankenden und aus der feindseligen Klasse zu einigem Reichtum, so dass sie durch Kauf und Bestechung einen höheren Lebensstandard erreichten als manches Mitglied der politischen Elite. 8
Über die Besetzung der staatlichen Stellen entscheidet einzig und allein die Abstammung – und damit auch über das Recht, nach Kindern wie Shin mit Steinen zu werfen.
Die einzigen Nordkoreaner, die als ausreichend vertrauenswürdig angesehen werden, um einenPosten als Wärter in einem der Zwangsarbeitslager zu bekommen, sind Männer wie An Myeong Chul, der Sohn eines nordkoreanischen Geheimdienstoffiziers.
Er wurde mit 19 Jahren vom Bowibu, der Nationalen Sicherheitsbehörde rekrutiert, nachdem er den zweijährigen Militärdienst absolviert hatte. Im Rahmen der Einstellungsprozedur wurde seine gesamte weitverzweigte Familie durchleuchtet. Außerdem musste er ein Dokument unterzeichnen, in dem er sich verpflichtete, unter keinen Umständen dritten Personen von der Existenz der Lager zu erzählen. Sechzig Prozent der 200 jungen Männer, die zusammen mit ihm als Wärter in Arbeitslagern eingestellt wurden, waren ebenfalls Söhne von Geheimdienstoffizieren.
An Myeong Chul arbeitete als Wärter und Fahrer sieben Jahre lang in vier verschiedenen Arbeitslagern (aber nicht im Lager 14). 1994 floh er nach China, nachdem sein Vater sich mit seinen Vorgesetzten überworfen und Selbstmord begangen hatte. Nachdem er schließlich nach Südkorea gelangt war, fand An in Seoul eine Tätigkeit als Bankangestellter und heiratete eine Südkoreanerin. Sie haben zwei Kinder. An engagierte sich in einer Menschenrechtsorganisation. Einige Zeit nach seiner Flucht erfuhr er, dass seine Schwester und sein Bruder in ein Arbeitslager verschleppt worden waren, wo sein Bruder später starb.
Als wir 2009 in Seoul bei einem chinesischen Essen miteinander sprachen, trug An einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd, eine gestreifte Krawatte und eine Halbrandbrille. Er wirkte wohlhabend und sprach ruhig und bedächtig. Dennoch ist er ein Mann von einschüchternder Statur mit kräftigen Händen und breiten Schultern.Während seiner Ausbildung als Wärter trainierte er Taekwondo, lernte Techniken zur Niederschlagung von Aufständen und wurde instruiert, er solle sich keine Sorgen machen, wenn Häftlinge durch seine Behandlung Verletzungen davontragen oder sogar sterben sollten. In den Lagern gewöhnte er sich daran, Häftlinge, die ihre Arbeitsnorm nicht erfüllten, mit einem Stock zu schlagen. Er erinnerte sich daran, dass er auch einen buckligen Häftling geschlagen hatte.
»Es war normal, Häftlinge zu verprügeln«, sagte er und setzte hinzu, dass seine Ausbilder ihn anwiesen, niemals zu lächeln und die Häftlinge
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