Flucht aus Lager 14
für den Anbau von Nahrungsmitteln zu schaffen. 2002 erlaubte sie private Landwirtschaft auf kleinen Parzellen. Das ermöglichte eine Erweiterung des Privatverkaufs der Bauern auf den Märkten, was wiederum die Stellung der Händler und die Autonomie produktiver Bauern stärkte.
Kim Jong Il konnte jedoch der Marktreform bis zu seinem Ende nichts abgewinnen. Für seine Regierung war sie lediglich eine durch Zuckerguss versüßte Giftpille.
»Es ist wichtig, kapitalistische und nichtsozialistische Elemente noch vor dem Austreiben entscheidend zurückzustutzen«, hieß es dazu in der Parteizeitung Rodong Sinmun in Pjöngjang. »Wenn die ideologische und kulturelle Vergiftung der Imperialisten zugelassen wird, werden selbst die Treuen, die vor keinen Bajonetten zurückweichen, nachgeben wie ein von Wasser unterspülter Wall.«
Der Kapitalismus, der in den Groß- und Kleinstädten Nordkoreas blühte, schwächte die eiserne Kontrolle über das alltägliche Leben und trug wenig dazu bei, den Staat reicher zu machen. Kim Jong Il zeigte seinen Groll öffentlich, als er sagte: »Der Staat hat kein Geld, doch einzelne Individuen besitzen das Doppelte des staatlichen Jahresbudgets.« 16
Die Regierung schlug zurück.
Der »Militär-Zuerst«-Politik entsprechend, 1999 offiziell von Kims Regierung proklamiert, wurde die koreanische Volksarmee, deren mehr als eine Million Soldaten dreimal am Tag ernährt werden müssen, demonstrativ mobilisiert, um einen beträchtlichen Anteil aller Nahrungsmittel zu konfiszieren, die von Kooperativen angebaut wurden.
»Zur Erntezeit kommen die Soldaten mit eigenen Lastwagen zu den Farmen und bedienen sich einfach«, sagte mir Kwon Tae-jin, ein Spezialist auf dem Gebiet der nordkoreanischen Landwirtschaft am Korea Rural Economic Institute in Seoul, das von der südkoreanischen Regierung finanziert wird.
Im hohen Norden, wo die Lebensmittelversorgung seit jeher schlecht ist und die Bauern als Gegner des Regimes angesehen werden, beschlagnahmt das Militär ein Viertel der gesamten Getreideproduktion, sagte Kwon. In anderen Regionen des Landes liegt der Anteil bei fünf bis sieben Prozent. Um sicherzustellen, dass die Arbeiter auf staatlichen landwirtschaftlichen Betrieben das Militär nicht übers Ohr hauen, stationiert die Regierung während der Erntezeit in sämtlichen dieser 3000 Betriebe ein Kontingent Soldaten. Wenn Zehntausende Stadtbewohner als Erntehelfer aufs Land geschickt werden, stehen sie unter strenger Bewachung der Soldaten, weil sonst zu befürchten ist, dass sie sich für den Eigenbedarf eindecken.
Der dauerhafte Einsatz von Soldaten in den landwirtschaftlichen Staatsbetrieben öffnet der Korruption Tür und Tor. Nach Angaben von Kwon zahlen die Verwalter der Betriebe den Soldaten Schmiergeld, die dafür dann wegsehen, wenn große Mengen an Nahrungsmitteln später auf privaten Märkten angeboten werden. Streitigkeiten zwischen verschiedenen Gruppen korrupter Soldaten arten immer wieder in Prügeleien und Schießereien aus, wie aus Berichten von Überläufern und von Helfern bei der Verteilung von Hilfsgütern hervorgeht. Good Friends, eine südkoreanische, buddhistische Hilfsorganisation mit Informanten im Norden, berichtete 2009, dass ein Soldat auf einem staatlichen landwirtschaftlichen Betrieb bei einem Streit um Mais mit einer Sichel getötet wurde.
Abgeschnitten von der Welt, erfuhr Shin auf der Schweinefarm nichts über den Straßenhandel und die Korruption und über verbotene Reisen innerhalb des Landes, die ihm in weniger als zwei Jahren zur Flucht verhelfen sollten.
Ausgesetzt auf einem Berg, in einer Art Lager innerhalb des Lagers, trieb er ereignislos in seinem letzten Jahr als Teenager dahin, den Blick gesenkt, der Kopf leer und alle Energie auf das Organisieren von Essbarem gerichtet. Seine lebhafteste Erinnerung an diese Jahre war der Tag, an dem er festgenommen wurde, weil er die Innereien eines Schweins über dem Feuer geröstet hatte. Er bekam Prügel, fünf Tage Lebensmittelentzug und eine dreimonatige Kürzung der Portionen in der Kantine um die Hälfte.
Als er auf der Farm zwanzig Jahre alt geworden war, glaubte er, den Platz gefunden zu haben, an dem er alt werden und sterben würde. Doch das Zwischenspiel auf der Schweinefarm endete abrupt im März 2003. Aus unerklärlichen Gründen wurde Shin zur Textilfabrik des Lagers versetzt, einem dicht besetzten, chaotischen, anstrengenden Ort, an dem 2000 Frauen und 500 Männer Militäruniformen
Weitere Kostenlose Bücher