Flucht aus Lager 14
Bedürftigen erreichten. Aber da die Not so groß war und die Zahl der Hungertoten so hoch, unterdrückte der Westen seine Empörung und lieferte von 1995 bis 2003 Nahrungsmittel im Wert von mehr als einer Milliarde Dollar nach Nordkorea.
In dieser Zeit gelangten Flüchtlinge aus Nordkorea in den Süden und erzählten den Behörden, dass sie gesehen hätten, wie Reis, Weizen, Mais, Speiseöl, fettfreie Trockenmilch, Düngemittel, Medikamente, Winterkleidung, Decken, Fahrräder und andere Hilfsgüter auf Privatmärkten zum Verkauf angeboten wurden. Fotos und Videos, die auf diesen Märkten aufgenommen wurden, zeigen Getreidesäcke mit der Aufschrift »A Gift from the American People« (Ein Geschenk des amerikanischen Volkes).
Beamte, Parteifunktionäre, Armeeoffiziere und andere gut situierte Regierungseliten stahlen am Ende etwa 30 Prozent der Hilfslieferungen, so schätzen unabhängige Wissenschaftler und internationale Hilfsorgane. Sie verkauften diese Güter an private Händler, häufig gegen Dollars und Euros, und lieferten sie in staatlichen Lastwagen an.
Ohne dass es ihre Absicht gewesen wäre, haben reiche Geberländer in der zwielichtigen Welt des nordkoreanischen Straßenhandels eine Art Adrenalinstoß ausgelöst. Der lukrative Diebstahl internationaler Lebensmittelspenden regte den Appetit der höheren Chargen auf leichtes Geld an, da er dazu beitrug, aus privaten Märkten den wichtigsten Wirtschaftsmotor des Landes zu machen.
Private Märkte, die heute den größten Teil der Lebensmittel anbieten, die in Nordkorea verzehrt werden, sind der Hauptgrund dafür geworden, dass ausländische Experten kaum eine Gefahr sehen, dass sich eine katastrophale Hungersnot wie in den neunziger Jahren wiederholt. Dennoch reichen diese Märkte nicht aus, Hunger und Unterernährung der Bevölkerung völlig zu beseitigen. Außerdem haben sie anscheinend eine wachsende Ungleichheit ausgelöst und eine Kluft geschaffen zwischen denen, die Mittel und Wege gefunden haben, Handel zu treiben, und jenen, denen das nicht gelungen ist.
Ende 1998, einige Monate bevor Shin für die Schweinefarm eingeteilt wurde, führte das UN -Welternährungsprogramm in Nordkorea eine Untersuchung der Lage von Kindern durch, bei der 70 Prozent von Nordkorea erfasst wurden. Dabei stellte man fest, dass etwa zwei Drittel der untersuchten Kinder im Wachstum gehemmt und/oder untergewichtig waren. Die erhobenen Zahlen lagen doppelt so hoch wie bei Kindern in Angola, das damals einen langen Bürgerkrieg hinter sich hatte, und die nordkoreanische Regierung tobte, als die Ergebnisse veröffentlicht wurden.
Zehn Jahre später, als die privaten Märkte im Norden ihren festen Platz erobert hatten und von importiertem Obst bis zu CD -Playern made in China alles führten, hatte sich an der Ernährung von Kindern und alten Menschen in staatlichen Einrichtungen kaum etwas gebessert. Das war jedenfalls das Ergebnis einer Erhebung des Welternährungsprogramms, der die nordkoreanische Regierung widerwillig zustimmte, weil sie andernfalls keine weiteren Hilfslieferungen erhalten hätte.
»Die Kinder sahen sehr traurig aus, ganz ausgezehrt und sehr bemitleidenswert«, sagte mir eine Ernährungswissenschaftlerin, die an der Erhebung von 2008 beteiligt war. Sie hatte bereits früher, in den Jahren nach 1990, an solchen Untersuchungen mitgewirkt und war zu dem Schluss gelangt, dass trotz der Ausbreitung der Märkte chronischer Hunger und starke Unterernährung in weiten Teilen Nordkoreas fortdauern.
Internationale Untersuchungen zur Ernährungslage ergaben außerdem, dass starke Unterschiede zwischen verschiedenen geografischen Regionen bestehen. Demnach sind Hunger, Wachstumsstörungen und Auszehrung in den abgelegenen Provinzen Nordkoreas – die der Gegner des Regimes – drei- bis viermal so stark verbreitet wie in der Hauptstadt Pjöngjang und Umgebung.
Wie Shin im Zwangsarbeitslager herausfand, war der sicherste Ort zum Überleben für machtlose Nordkoreaner, die chronisch Hunger litten, ein Bauernhof. Auch wenn sie in Kooperativen arbeiteten, deren Ernte dem Staat gehörte, hatten sie die Möglichkeit, Nahrungsmittel abzuzweigen und zu horten beziehungsweise sie zu verkaufen oder gegen Kleidung und andere Güter zu tauschen.
Die Regierung hatte kaum eine andere Wahl – nach der Hungersnot, nach dem Zusammenbruch ihres Systems der Nahrungsmittelverteilung und nach dem Aufkommen der privaten Märkte –, als den Bauern höhere Preise anzubieten und Anreize
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