Flucht aus Lager 14
herstellten.
In der Fabrik wurde Shins Leben erneut kompliziert. Es herrschte unbarmherziger Druck, die Produktionsnormen zu erfüllen, und erneut der Zwang, die Kollegen auszuhorchen und zu denunzieren. Wärter suchten sexuelle Befriedigung bei den Näherinnen.
Hier gab es andererseits einen Neuankömmling, einen gebildeten Häftling aus Pjöngjang. Er hatte seine Ausbildung in Europa genossen und eine Zeitlang in China gelebt. Er sollte Shin die Augen dafür öffnen, was er entbehrte.
KAPITEL 12
Ein Missgeschick
Tausend Frauen nähten gemeinsam Militäruniformen in einer Zwölf-Stunden-Schicht. Sobald eine ihrer Tretnähmaschinen den Dienst versagte, musste Shin den Schaden beheben.
Er war verantwortlich für rund fünfzig Maschinen und die Näherinnen, die damit arbeiteten. Wenn die Näherinnen nicht die vorgegebene tägliche Quote schafften, mussten sie und Shin die sogenannte »schmerzliche Erniedrigungsarbeit« leisten, zwei Überstunden in der Fabrik, gewöhnlich von zehn Uhr abends bis Mitternacht.
Erfahrene Näherinnen konnten mit ihren Maschinen, die in einer Fabrik des Lagers aus Gusseisen gefertigt wurden, so umgehen, dass sie makellos funktionierten. Anders Anfängerinnen oder ungeschickte Näherinnen. Falls eine Nähmaschine kaputtging, mussten Shin und seine Reparaturkollegen das schwere Gerät auf dem Rücken in eine Werkstatt im 1. Stock des Gebäudes schleppen.
Die zusätzliche Arbeit verärgerte viele Reparateure. Ihren Frust ließen sie an den Näherinnen aus, indem sie diese an den Haaren rissen, ihren Kopf gegen die Wand stießen und ihnen mit der Faust ins Gesicht schlugen. Die Vorarbeiter, ebenfalls Häftlinge, die von den Wärtern wegen ihrer Brutalität ausgesucht worden waren, sahen meistens weg, wenn Näherinnen misshandelt wurden. Shin erzählten sie, dass Angst die Produktion steigere.
Shin war zwar immer noch klein und mager, aber er war kein passives, unterernährtes und durch die Folter traumatisiertes Kind mehr. Während seines ersten Jahrs in der Fabrik bewies er dies gegenüber sich selbst und den anderen Arbeitern in einer Konfrontation mit einem weiteren Nähmaschinenreparateur.
Gong Jin Soon war ein Hitzkopf. Shin hatte ihn einmal dabei beobachtet, wie er einen Wutanfall hatte. Einer der Näherinnen seiner Kolonne war die Welle ihrer Maschine gebrochen. Gong trat der Frau so fest ins Gesicht, dass sie zu Boden stürzte.
Als Gong einmal von einer Näherin, die zu Shins Kolonne gehörte, einen Stoffschieber verlangte – ein entscheidendes Teil der Nähmaschine, das die Stichlänge steuert, indem es die Geschwindigkeit des Stoffvorschubs zur Nadel reguliert –, weigerte diese sich.
»Du mieses Dreckstück, wenn ein Reparateur von dir ein Teil verlangt, dann hast du es herzugeben«, brüllte Gong. »Du brauchst mich gar nicht so blöd anzuglotzen!«
Shin sah, wie Gong der Näherin mit der Faust auf die Nase schlug, sodass Blut floss. Zu seinem eigenen Erstaunen und dem der anderen Näherinnen rastete Shin daraufhin aus. Er packte einen großen Schraubenschlüssel und ging auf Gong los. Er hätte den Schraubenschlüssel mit aller Wucht auf dessen Schädel geschlagen, wenn Gong nicht rechtzeitig seinen Arm schützend vor den Kopf gehalten hätte.
Gong brüllte vor Schmerzen und fiel zu Boden. Der diensthabende Vorarbeiter, der Shin als Reparateur angelernt hatte, kam sofort und sah einen finsteren Shin mit einem Schraubenschlüssel in der Hand über Gong stehen, dessen Arm blutete und bereits stark angeschwollen war. Der Vorarbeiter gab Shin eine Ohrfeige und nahm ihm den Schraubenschlüssel ab. Die Näherinnen gingen wieder an ihre Arbeit zurück. Von da an hielt Gong sich von Shin fern.
Die Textilfabrik besteht aus einer Ansammlung von sieben großen Gebäuden, die alle auf Satellitenfotos zu erkennen sind. Der Standort befindet sich in der Nähe des Taedong am Eingang zum Tal Nr. 2, nicht weit entfernt vom Staudamm mit dem Wasserkraftwerk sowie den Fabriken, in denen Glas- und Porzellanwaren hergestellt werden.
Zu Shins Zeit in der Textilfabrik gab es innerhalb des Komplexes Schlafräume für die 2000 Näherinnen und die 500 Männer, die in den Reparaturwerkstätten arbeiteten, Kleidungsstücke entwarfen, die Anlage warteten oder den Versand besorgten. Der Leiter der Fabrik war der Einzige, der im Bowiwon -Dorf lebte. Alle Vorarbeiter, auch der Chongbanjang , deroberste von ihnen, waren Häftlinge.
Die Arbeit in der Fabrik brachte Shin in engen, täglichen
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