Flucht aus Lager 14
Essen. Es war zwar nicht besonders schmackhaft, doch monatelang gab es ausreichend davon. Für ihn waren die Mahlzeiten am Dammbau die glücklichsten Augenblicke seiner Zeit als Heranwachsender. Er erreichte wieder sein früheres Gewicht und seine alte Ausdauer und konnte bei der Arbeit mithalten. Auch gewann er sein Vertrauen wieder, dass er es schaffen würde zu überleben.
Das Leben in der Nähe des Damms ermöglichte Shin zudem ein Stückchen Unabhängigkeit. Im Sommer schliefen Hunderte Schüler im Freien unter einem Zeltdach. Wenn sie nicht arbeiten mussten, konnten sie – bei Tage – überall innerhalb des Lagers 14 umhergehen. Für seine Schwerarbeit erhielt Shin eine Empfehlung von seinem Klassensprecher, die es ihm erlaubte, vier Nächte bei seinem Vater zu verbringen. Doch da sie sich nicht aussöhnen konnten, blieb Shin nur eine Nacht bei ihm.
Er hatte etwa ein Jahr lang auf der Baustelle des Staudamms gearbeitet, als seine Zeit auf der weiterführenden Schule im Mai 1999 zu Ende ging. Diese Schule war kaum mehr gewesen als eine Unterkunft für Sklaven, von der aus er zum Steineaufklauben, Unkrautjäten und als Baustellenhilfskraft eingesetzt wurde. Doch die Beförderung bedeutete, dass er mit seinen 16 Jahren als ein erwachsener Arbeiter galt. Er konnte nun eine dauerhafte Arbeitsstelle im Lager zugewiesen bekommen.
Etwa 60 Prozent der Mitschüler erhielten Arbeit in den Kohlegruben, wo tödliche Unfälle durch Einstürze oder Explosionen an der Tagesordnung waren. Viele Bergarbeiter bekamen nach zehn bis 15 Arbeitsjahren eine Staublunge, die meisten starben noch vor dem fünfzigsten Lebensjahr. In Shins Augen war der Einsatz in den Kohlengruben ein Todesurteil.
Die Entscheidung darüber, wer wohin geschickt wurde, traf Shins ehemaliger Lehrer, derselbe, der ihm zwei Jahre zuvor das Leben gerettet hatte. Der Lehrer vergab die Zuweisungen ohne Kommentar und teilte den ehemaligen Schülern kurz und bündig mit, wo sie für den Rest ihres Lebens arbeiten würden. Sobald er seine Liste verlesen hatte, kamen neue Herren – Vorarbeiter aus den Fabriken des Lagers, der Kohlengrube und der landwirtschaftlichen Betriebe – und nahmen die ihnen zugewiesenen Schüler mit.
Der Lehrer teilte Hong Joo Hyun für die Kohlengrube ein. Shin sollte ihn nie mehr wiedersehen.
Das Mädchen, dem mit elf Jahren der große Zeh zerquetscht worden war, Moon Sung Sim, wurde in die Textilfabrik geschickt.
Hong Sung Jo, der Freund, der Shin vor weiteren Folterungen bewahrte, indem er bestätigte, dass Shin den Fluchtversuch seiner Mutter und seines Bruders angezeigt hatte, wurde ebenfalls in die Kohlengrube geschickt. Auch ihn sollte Shin nie wiedersehen.
Falls es bei der Arbeitsverteilung bestimmte Kriterien gegeben haben sollte, so waren sie für Shin ein Geheimnis. Für ihn lief es auf die persönlichen Launen des Lehrers hinaus, dem man jedoch absolut nichts vom Gesicht ablesen konnte. Vielleicht mochte der Lehrer Shin. Möglicherweise hatte er auch die Weisung, sich um den Jungen zu kümmern. Shin weiß es schlicht nicht.
Jedenfalls rettete der Lehrer Shin zum zweiten Mal das Leben. Er schickte ihn zur Arbeit in der Schweinefarm des Lagers, wo 200 Männer und Frauen etwa 800 Schweine hielten, zudem Ziegen, Kaninchen, Hühner und einige Kühe. Das Futter für die Tiere wurde auf den Feldern hinter den Viehzäunen angebaut.
»Shin In Geun, du bist für den Viehhof vorgesehen«, sagte der Lehrer. »Streng dich an!«
Nirgendwo sonst im Lager 14 gab es so viel Essbares, das man stehlen konnte.
KAPITEL 11
Eine ruhige Zeit auf der Farm
Shin musste sich nicht anstrengen.
Die Vorarbeiter schlugen ihn und andere Arbeiter, wenn sie nicht ordentlich arbeiteten, aber nicht hart, und schon gar nicht prügelten sie sie zu Tode. Die Schweinefarm war das Beste, was Shin passieren konnte. Er gönnte sich sogar gelegentlich ein Mittagsschläfchen.
Die Essensportionen im Speisesaal der Schweinezucht waren nicht größer als die für die Arbeiter in der Zementfabrik, die Frauen in der Textilfabrik oder die Bergleute unter Tage. Das Essen selbst war auch nicht besser. Doch zwischen den Mahlzeiten konnte Shin sich an geschrotetem Mais bedienen, der für die Ferkel bestimmt war, die er von November bis zum nächsten Juli füttern musste. Auf den Feldern, wo er von August bis Oktober Unkraut jätete und bei der Ernte half, konnte er zwischendurch an einem Maiskolben knabbern oder Kohlblätter und anderes rohes Gemüse essen.
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