Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flucht aus Lager 14

Flucht aus Lager 14

Titel: Flucht aus Lager 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Harden
Vom Netzwerk:
Gelegentlich brachten die Vorarbeiter einen vollen Kochtopf aufs Feld, und alle konnten sich satt essen.
    Die Farm lag oben in den Bergen, weiter weg vom Fluss, etwa eine halbe Stunde zu Fuß entfernt von seiner früheren Schule und dem Haus, in dem er mit seiner Mutter gewohnt hatte. Frauen kamen mit ihren Kindern morgens zur Farm und kehrten am Abend wieder nach Hause zurück, doch die meisten der dort beschäftigten Arbeiter verbrachten die Nacht in einem Schlafsaal auf dem Berg.
    Dort übernachtete auch Shin auf dem Boden in einem Raum für Männer. Er musste kein Gerangel zwischen den Männern fürchten und schlief gut.
    Es gab ein Schlachthaus auf dem Gelände der Farm, in dem zweimal im Jahr an die fünfzig Schweine geschlachtet wurden, und zwar ausschließlich für die Wärter und ihre Familien. Als Häftling war es Shin nicht erlaubt, Schweinefleisch oder überhaupt Fleisch von Tieren zu essen, die auf der Farm gezüchtet wurden. Doch er und andere Häftlinge konnten manchmal etwas »organisieren«. Der Duft von geröstetem Schweinefleisch auf der Farm hätte die Wärter aufmerksam gemacht, was Schläge und wochenlang halbe Essensportionen zur Folge gehabt hätte, so dass sie das stibitzte Schweinefleisch roh aßen.
    Was Shin auf der Farm nicht tat, war, über die Außenwelt nachzudenken, von ihr zu sprechen oder zu träumen.
    Niemand dort erwähnte den Fluchtplan, der zur Hinrichtung seiner Mutter und seines Bruders geführt hatte. Die Wärter forderten Shin nicht auf, die anderen Arbeiter zu bespitzeln. Die Wut, die ihn in den ersten Monaten nach dem Tod seiner Mutter überwältigt hatte, wich einer Betäubung. Bevor man ihn in das unterirdische Gefängnis gebracht und dort gefoltert hatte, bevor Onkel ihm Geschichten von der Außenwelt erzählt hatte, war für Shin das Einzige, was ihn wirklich interessiert hatte, seine nächste Mahlzeit.
    Auf der Schweinefarm kehrte diese apathische Leere zurück. Shin verwendet heute das Wort »Entspannung«, um seine Zeit an diesem Ort zu beschreiben, die von 1999 bis 2003 währte.
    Doch während dieser Jahre war das Leben in Nordkorea außerhalb des Lagers alles andere als entspannend.
    Hungersnot und Überschwemmungen in der Mitte der neunziger Jahre machten die Planwirtschaft zuschanden. Das öffentliche Verteilungssystem der Regierung, das die meisten Nordkoreaner seit dem Ende des Koreakriegs 1953 ernährt hatte, brach zusammen. Als eine panische Reaktion auf Hunger und Hungertod schoss der Tauschhandel ins Kraut, und private Märkte nahmen an Zahl und Bedeutung enorm zu. Neun von zehn Haushalten betrieben Tauschhandel, um zu überleben. 15 Immer mehr Nordkoreaner verließen heimlich das Land und gingen nach China, wo es Lebensmittel, Arbeit, Handel und Flüge nach Südkorea gab. WederChina noch Nordkorea veröffentlichten Zahlen, doch Schätzungen bewegen sich zwischen mehreren zehntausend und vierhunderttausend solcher Wirtschaftsmigranten.
    Kim Jong Il versuchte, das Chaos in den Griff zu bekommen. Seine Regierung schuf ein neues Netz von Haftanstalten für Händler, die ohne staatliche Zulassung umherreisten. Doch mit Salzgebäck und Zigaretten konnten diese sich bei hungrigen Polizisten und Soldaten häufig freikaufen. Bahnhöfe, Märkte unter freiem Himmel und dunkle Gassen in größeren Städten waren dicht gedrängt von ziellos umherlaufenden Hungernden. Die vielen verwaisten Kinder, die an diesen Orten aufgefunden wurden, nannte man bald »Wanderspatzen«.
    Shin wusste davon in jener Zeit noch nichts, doch ein Kapitalismus der kleinen Leute, Wanderhändler und die um sich greifende Korruption fügten dem Polizeistaat, von dem das Lager 14 umgeben war, die ersten Risse zu.
    Die Hungerhilfe aus den Vereinigten Staaten, Japan, Südkorea und von anderen Spendern milderte bis zum Ende des Jahrhunderts die schlimmsten Auswirkungen der Hungersnot. Doch auf indirekte und zufällige Art und Weise motivierte sie auch die Marktfrauen und fahrenden Händler.
    Im Gegensatz zu allen anderen Empfängern von Hilfsgütern auf der Welt beharrte die Regierung Nordkoreas darauf, die Verteilung der gespendeten Lebensmittel selbst in die Hand zu nehmen. Diese Forderung verärgerte zwar die Vereinigten Staaten, den größten Spender, und sie torpedierte die Überwachungsverfahren, die vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen in der ganzen Welt eingerichtet worden waren, um den Weg der Hilfen zu verfolgen und sicherzustellen, dass die Spenden auch tatsächlich die

Weitere Kostenlose Bücher