Flucht aus Lager 14
beitrug, dass Shin wieder gesund wurde. Der freundliche Vorarbeiter behielt seine Stellung nicht lange. Er verschwand zusammen mit seiner Frau einige Monate nach Shins Missgeschick. Shin erfuhr von anderen Reparaturarbeitern, dass die Frau des Vorarbeiters, während sie im Wald gearbeitet hatte, in einer Bergschlucht auf eine geheime Hinrichtung gestoßen war.
Bevor der Vorarbeiter verschwunden war, hatte er Shin ein Geschenk gebracht.
»Es ist Reismehl, und dein Vater möchte, dass du es bekommst«, sagte er.
Bei der Nennung des Namens seines Vaters wurde Shin wütend. Obwohl er sich bemüht hatte, ihn zu unterdrücken, war der Groll auf seine Mutter und seinen Bruder noch stärker geworden. Das hatte auch die Gefühle gegenüber seinem Vater vergiftet, Shin wollte nichts mit ihm zu tun haben.
»Iss du es«, sagte er.
»Dein Vater hat es für dich gedacht«, erwiderte der Vorarbeiter und schien verwirrt. »Willst du es nicht essen?«
Trotz seines Hungers lehnte Shin ab.
Bei so vielen Häftlingen, die so eng zusammenarbeiteten, war die Fabrik eine Brutstätte der Denunziationen.
Ein Mithäftling verriet Shin einige Wochen nachdem man ihm den Mittelfinger verstümmelt hatte. Shins Schicht hatte die tägliche Norm nicht erreicht und musste deshalb zur Strafe zwei zusätzliche Stunden arbeiten. Gemeinsam mit drei weiteren Arbeitern kam Shin erst nach Mitternacht in den Schlafsaal zurück.
Sie waren alle unglaublich hungrig, und einer machte den Vorschlag, in den Gemüsegarten der Fabrik zu gehen, wo es Kohl, Kopfsalat, Gurken, Auberginen und Radieschen gab. Es regnete, und es gab kein Mondlicht, sodass es wenig wahrscheinlich war, entdeckt zu werden. Sie nahmen mit, was sie tragen konnten, und aßen sich ordentlich satt, bevor sie schlafen gingen.
Am nächsten Morgen wurden die vier zum Fabrikleiter in dessen Büro gerufen. Irgendjemand hatte ihr nächtliches Treiben verraten. Der Leiter schlug jeden von ihnen mit einem Stock auf den Kopf, dann schickte er einen der Reparaturarbeiter, er hieß Kang Ban Bok, aus dem Zimmer. Denunzianten riechen sich untereinander; Shin wusste instinktiv, dass Kang es war, der sie verraten hatte.
Der Leiter ordnete an, dass die Rationen für die drei Übeltäter für die nächsten 14 Tage um die Hälfte gekürzt wurden, und schlug ihnen noch ein paarmal mit seinem Stock auf den Kopf. In der Fabrik begegnete Shin Kang, der ihm nicht in die Augen sah.
Bald darauf wurde Shin aufgefordert, die Arbeitskollegen zu bespitzeln. Der Fabrikleiter beorderte ihn in sein Büro und sagte ihm, um sich von den Sünden seiner Mutter und seines Bruders reinzuwaschen, müsse er Missetäter melden. Shin brauchte zwei Monate, bis er einen gefunden hatte.
Als er eines Nachts schlaflos auf dem Boden lag, sah er, wie ein Transportarbeiter namens Kang Chul Min aufstand und anfing, ein Loch in seiner Arbeitshose mit einem Stück Stoff für Militäruniformen zu flicken. Offenbar hatte er den Stoff aus der Fabrikhalle gestohlen.
Am nächsten Morgen ging Shin zum Fabrikleiter.
»Meister, ich habe ein gestohlenes Stück Stoff gesehen.«
»Tatsächlich? Bei wem?«
»Es war Kang Chul Min, in meinem Schlafraum.«
Shin arbeitete an diesem Abend besonders lang in der Fabrik und war einer der letzten Reparaturarbeiter, die um zehn Uhr zur Versammlung des ideologischen Kampfs kamen, der Pflichtveranstaltung der Selbstkritik.
Als er den Raum betrat, sah er Kang Chul Min. Er kniete auf dem Boden und war mit Ketten gefesselt. Sein nackter Rücken war voller Striemen, die von Peitschenschlägen stammten. Seine heimliche Freundin, eine Näherin, über deren Verhältnis mit ihm Shin Gerüchte gehört hatte, kniete neben ihm. Auch sie war in Ketten. Sie knieten schweigend anderthalb Stunden in dieser Haltung, bis die Versammlung beendet war. Dann forderte der Direktor die Anwesenden auf, einzeln nacheinander Kang und seiner Freundin ins Gesicht zu schlagen, bevor sie den Saal verließen. Shin schlug beide.
Er hörte, dass der Mann und die Frau anschließend weggebracht wurden und noch einmal mehrere Stunden auf einem Betonboden knien mussten. Die beiden kamen nie dahinter, wer die Sache mit dem Stück Stoff angezeigt hatte. Seitdem war Shin derjenige, der wegguckte, wenn er sie sah.
KAPITEL 13
Die Entscheidung, nicht mehr zu denunzieren
Der Fabrikleiter hatte noch eine weitere Aufgabe für Shin.
Park Yong Chul, klein und stämmig, mit einem weißen Haarschopf, war ein wichtiger neuer Häftling. Er hatte im
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