Flucht aus Lager 14
Segnungen des Wirtschaftsbooms bislang vorbeigegangen sind. Wichtiger noch, er könnte den Sturz des Regimes in Nordkorea beschleunigen und zur Vereinigung der koreanischen Halbinsel führen, an deren Spitze die Regierung in Seoul stünde, die jedoch eng mit den Vereinigten Staaten verbündet ist. Bei dieser Entwicklung würde China einen wichtigen Puffer zwischen einer seiner ärmsten Regionen und einem vereinten, wirtschaftlich starken und westlich orientierten Korea verlieren. Und das könnte wiederum nationalistische Gefühle unter den ethnischen Koreanern in den chinesischen Grenzprovinzen wecken.
Pekings Abneigung gegen nordkoreanische Flüchtlinge, abzulesen an den Polizisten und Soldaten an der Grenze, trifft auf das Verständnis der Bauern, Fabrikvorarbeiter und anderen Chefs in Chinas nordöstlichen Provinzen.
Doch wie Shin selbst erlebt hat, sind sie andererseits durchaus bereit, Regierungsanweisungen zu ignorieren, wenn vor ihnen ein fleißiger Nordkoreaner steht, der den Mund hält und für 60 Cent am Tag harte Arbeit leistet. Chinesische Arbeitgeber haben auch keine Skrupel, einen nordkoreanischen Helfer zu betrügen, ihn zu misshandeln oder sich seiner von einem Tag auf den anderen zu entledigen.
Nach einem Monat wurde dem Bauern die Abmachung mit Shin lästig.
Shin holte gerade einen Eimer Wasser aus einem Bach in der Nähe des Hofs, als er zwei nordkoreanischen Flüchtlingen, einer Frau und einem Mann, begegnete. Die beiden waren hungrig, sie froren und sie hausten in einem verlassenen Schuppen im Wald unweit des Hofs. Shin bat seinen Arbeitgeber, den beiden auszuhelfen, was dieser auch tat, wenngleich widerstrebend und mit unterdrücktem Groll, den Shin nicht sofort bemerkte.
Die Frau war in den Vierzigern und hatte schon einmal die Grenze überquert. Jetzt wollte sie telefonisch Kontakt aufnehmen zu ihrem chinesischen Mann und ihrem Kind, die ganz in der Nähe wohnten. Der Bauer stellte ihr sein Telefon zur Verfügung, und nach einigen Tagen waren die beiden Flüchtlinge wieder gegangen.
Drei nordkoreanische Flüchtlinge auf seinem Hof hatten jedoch für den Bauern das Fass offenbar zum Überlaufen gebracht. Er sagte Shin, auch er müsse gehen.
Der Bauer wusste von einer anderen Arbeit: Shin könne in den Bergen Vieh hüten. Er bot ihm an, ihn in seinem Wagen dorthin zu bringen. Nach einer zweistündigen Fahrt auf Bergstraßen setzte der Bauer Shin vor dem Hof eines Freundes ab. Es war nicht weit von Helong, einer größeren Stadt mit rund 85000 Einwohnern. Wenn Shin gut arbeite, versprach ihm der Bauer, werde er großzügig entlohnt werden.
Erst als der Bauer wieder abgefahren war, bemerkte Shin, dass niemand auf dem Hof Koreanisch sprach.
KAPITEL 20
Asyl
Während der nächsten zehn Monate blieb Shin da, wo der Schweinezüchter ihn abgesetzt hatte, trieb das Vieh auf die Weiden in den Bergen und schlief auf dem Boden eines Bauernhauses zusammen mit zwei mürrischen chinesischen Kuhhirten. Er hätte jederzeit wieder gehen können, wusste aber weder wohin, noch was er sonst tun sollte.
Ihre Planung für die Zukunft war Parks Aufgabe gewesen. Damals im Lager 14 hatte Park Shin versichert, wenn sie es erst einmal nach China geschafft hätten, würde er die Reise nach Südkorea organisieren. Park würde seinen Onkel in China um Hilfe bitten. Sie würden Geld bekommen, Dokumente und Adressen. Doch Park war tot, und Südkorea schien in unerreichbarer Ferne zu liegen.
Vorläufig dort zu bleiben, wo er war, hatte jedoch auch Vorteile. Shins Brandwunden verheilten. Von den Kuhhirten und dem Viehhalter lernte er so viel Chinesisch, dass er sich mit ihnen holprig unterhalten konnte. Und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Zugang zu einer Traummaschine.
Einem Radio.
Shin drehte fast jeden Morgen am Senderwahlknopf und wechselte ständig zwischen vielleicht zwölf Stationen in koreanischer Sprache, die täglich nach Nordkorea und China senden. Diese Stationen, finanziert von Südkorea, den Vereinigten Staaten und Japan, bringen asiatische und andere internationale Nachrichten vermischt mit sehr kritischen Kommentaren zu Nordkorea und seiner Regierung. Insbesondere gehen sie auf die chronische Lebensmittelknappheit, die Verletzungen der Menschenrechte, die militärischen Provokationen, das Atomwaffenprogramm und die Abhängigkeit von China ein. Eine beträchtliche Sendezeit wird dem – für nordkoreanische Verhältnisse – komfortablen Lebensstandard von nordkoreanischen Flüchtlingen
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