Flucht aus Lager 14
Glück bei koreanischen Kirchen. Auch hier gaben ihm Pastoren ein wenig Geld, konnten ihm jedoch weder zu einer Arbeit noch zu einer Unterkunft verhelfen. Er verließ Tianjin und fuhr mit dem Bus 670 Kilometer weit in die Fünfmillionenstadt Jinan, blieb dort fünf Tage, um koreanische Kirchen aufzusuchen, hatte aber nirgends Erfolg.
Wieder fuhr er nach Süden. Am 6. Februar 2006 – ein Jahr und eine Woche nachdem er über den gefrorenen Tumen nach China gelangt war, erreichte Shin Hangzhou, eine Großstadt im Jangtse-Delta mit sieben Millionen Einwohnern. Beim dritten koreanischen Restaurant, das er betrat, hatte der Eigentümer Arbeit für ihn.
In dem Restaurant mit dem Namen Haedanghwa Korean Cuisine ging es sehr hektisch zu, und Shin arbeitete bis in die Nacht, spülte das Geschirr und wischte die Tische sauber. Nach elf Tagen hatte er genug. Er kündigte, bekam sein Geld und nahm den Bus nach Shanghai.
An einer Bushaltestelle in Shanghai blätterte er eine Illustrierte in koreanischer Sprache durch, fand eine Liste mit Adressen von koreanischen Restaurants und machte sich erneut auf die Suche.
»Kann ich bitte den Eigentümer des Restaurants sprechen?«, fragte er eine Kellnerin im ersten Restaurant auf der Liste.
»Warum fragen Sie?«, erwiderte die Kellnerin.
»Ich komme aus Nordkorea, ich bin gerade mit dem Bus angekommen, und ich weiß nicht, wohin ich gehen kann«, sagte Shin. »Ich dachte, Sie könnten vielleicht eine Aushilfe gebrauchen.«
Die Kellnerin sagte ihm, dass der Eigentümer nicht zu sprechen sei.
»Gibt es vielleicht etwas, das ich tun könnte?«, bat Shin.
»Es gibt hier keine Arbeit, aber der Mann, der da drüben am Tisch sitzt, hat gesagt, er komme aus Korea, fragen Sie den mal.«
Die Kellnerin wies auf einen Gast, der gerade sein Mittagessen verzehrte.
»Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie störe. Ich komme aus Nordkorea und suche Arbeit«, sprach Shin ihn an. »Können Sie mir vielleicht helfen?«
Nachdem der Mann eine Weile Shins Gesicht gemustert hatte, fragte er ihn, aus welcher Stadt er komme. Shin antwortete, er komme aus Bukchang, das war die Stadt in der Nähe des Lagers 14, in der er den ersten Sack Reis gestohlen hatte.
»Sind Sie wirklich aus Nordkorea?«, fragte der Mann, zog ein Notizbuch aus der Tasche und begann, einige Notizen zu machen. Shin war an einen Journalisten geraten, einen in Shanghai wohnenden Korrespondenten für einen großen südkoreanischen Medienkonzern.
»Warum sind Sie gerade nach Shanghai gekommen?«, fragte er Shin.
Shin wiederholte, was er gerade zuvor gesagt hatte. Er suche Arbeit. Er habe Hunger. Der Journalist schrieb alles mit. Das war kein Gespräch, wie Shin es bisher kannte. Er war noch nie einem Journalisten begegnet. Das machte ihm Angst.
Nach längerem Schweigen fragte der Mann Shin, ob er nach Südkorea gehen wolle – eine Frage, die Shin sogar noch mehr ängstigte. Als er in Shanghai ankam, hatte er längst jede Hoffnung aufgegeben, nach Südkorea zu reisen. Er antwortete, das sei nicht möglich, weil er kein Geld habe.
Der Mann schlug ihm vor, gemeinsam das Restaurant zu verlassen. Draußen auf der Straße winkte er ein Taxi herbei, ließ zuerst Shin hineinsteigen und setzte sich dann neben ihn. Nach einigen Minuten eröffnete er Shin, sie führen jetzt zum südkoreanischen Konsulat.
Shins wachsendes Unbehagen steigerte sich zu panischer Angst, als der Journalist ihm erklärte, es könne eventuell gefährlich werden, wenn sie gleich aus dem Taxi stiegen. Er sagte Shin, falls jemand ihn zu packen versuche, solle er sich losreißen und davonrennen.
Als sie sich dem Konsulat näherten, sahen sie Polizeiwagen sowie einige Polizisten, die vor dem Eingang auf und ab gingen. Seit 2002 hatte die Regierung Chinas – mit beträchtlichem Erfolg – versucht, Nordkoreaner daran zu hindern, in Botschaften und Konsulate zu gelangen und um Asyl zu bitten.
Shin hatte sich von der chinesischen Polizei ferngehalten. Da er die Deportation fürchtete, hätte er nie gewagt, hier in ein Haus einzubrechen und Reis oder Kleidung zu stehlen. Er hatte sich bemüht, unsichtbar zu sein, und es war ihm gelungen.
Als das Taxi vor dem Gebäude mit der flatternden Fahne Südkoreas anhielt, spürte Shin große Beklemmung. Als sie auf der Straße standen, hatte er Angst, dass ihm die Beine den Dienst versagen würden. Der Journalist sagte ihm, er solle lächeln; er legte seinen Arm um Shins Schulter und zog ihn eng an seine Seite. Zusammen gingen
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