Flucht aus Lager 14
Hoffnung, sich von der Grenze zu entfernen. Um die Mittagszeit sah er von weitem einen Kontrollposten, verließ die Straße, stieß wieder auf ein Haus und klopfte an.
»Können Sie mir bitte helfen?«, bat er.
Ein koreanischer Chinese öffnete, aber wollte ihn nicht einlassen. Seine Frau sei geisteskrank. Aber er gab Shin zwei Äpfel.
Um die Kontrollposten zu umgehen und sich weiter von der Grenze zu entfernen, folgte Shin einem gewundenen Fußweg in die Berge, auf dem er fast den ganzen Tag weiterlief. (Shin kann nicht mehr genau sagen, wo er sich am ersten Tag in China befand; Google-Earth-Bilder von der Region in der Nähe der Grenze zeigen bewaldete Berge und einige einzeln stehende Häuser.) Gegen Abend versuchte er es bei einem Bauernhaus, das neu aus Betonsteinen errichtet und von mehreren Schweineställen umgeben war. Fünf Hunde schlugen an, als Shin den Hof betrat.
Ein Mann in mittleren Jahren streckte sein wohlgenährtes Gesicht aus der Vordertür.
»Bist du aus Nordkorea?«, fragte der Mann.
Shin nickte müde.
Der Mann, ein chinesischer Bauer, der etwas Koreanisch sprach, bat Shin ins Haus und sagte zu einer jungen Frau, sie solle Reis kochen. Der Bauer erzählte, er habe einmal zwei nordkoreanische Flüchtlinge beschäftigt, die nützliche Arbeiter gewesen seien. Er bot Shin freie Kost und Logis und täglich fünf Yuan an – etwa 60 Cent –, wenn er bereit sei, die Schweine zu versorgen.
Noch vor seiner ersten warmen Mahlzeit in China hatte Shin eine Arbeit und eine Schlafstelle. Er war ein Lagerhäftling gewesen, ein Denunziant, ein Flüchtling und ein Dieb, aber noch nie ein bezahlter Arbeiter. Die Arbeit war ein Neuanfang, und er fühlte eine tiefe Erleichterung. Damit war für ihn ein mit Ängsten erfüllter, eisiger Monat auf der Flucht beendet. Ein ganzes Leben in Sklaverei gehörte auf einen Schlag der Vergangenheit an. In der Küche des Schweinezüchters konnte sich Shin für den nächsten Monat endlich richtig satt essen. Dreimal am Tag verwöhnte er seinen Magen mit dem gebratenen Fleisch, von dem er und Park im Lager 14 geträumt hatten. Er badete mit Seife und warmem Wasser. Endlich wurde er die Läuse los, mit denen er von Geburt an gelebt hatte.
Der Bauer kaufte Antibiotika für die Brandwunden auf Shins Beinen, außerdem warme Winterkleidung und Arbeitsstiefel. Endlich konnte Shin die gestohlene, schlecht sitzende Kleidung wegwerfen, die ihn als Nordkoreaner auswies.
Er hatte ein eigenes Zimmer, in dem er mit mehreren Decken auf dem Boden schlief. Er konnte nachts bis zu zehn Stunden schlafen, für ihn ein unvorstellbarer Luxus. Die junge Frau im Haus, die mit dem Bauern zusammenlebte, kochte für ihn und brachte ihm ein wenig Chinesisch bei.
Er arbeitete von der Morgendämmerung bis sieben oder acht Uhr abends. Neben der Versorgung der Schweine ging er mit dem Bauern auf die Jagd nach Wildschweinen in den umliegenden Bergen. Hatte der Bauer ein Wildschwein geschossen, schleifte Shin das tote Tier zum Hof, wo es zerlegt und danach verkauft wurde.
Die Arbeit war gewiss sehr anstrengend, doch niemand ohrfeigte, trat oder schlug ihn, und er wurde von niemandem bedroht. Seine Angst schwand mit der Zeit, und da er ausreichend Essen und Schlaf hatte, gewann er an Kraft. Wenn die Polizei den Hof besuchte, sollte er sich stumm stellen. Der Bauer bürgte dann für seinen guten Charakter, und die Polizei war zufrieden.
Dennoch war es für Shin klar, dass er dem Bauern nur deshalb willkommen war, weil er eine billige Arbeitskraft war.
Die Kapazität der chinesischen Grenzregionen, nordkoreanische Flüchtlinge aufzunehmen, ist beträchtlich – und wird außerhalb Nordostasiens viel zu wenig anerkannt. Die Bevölkerung der Region steht den Koreanisch sprechenden Flüchtlingen weder fremd noch besonders ablehnend gegenüber.
Wenn Flüchtlinge die Grenze überqueren, sind die ersten »Fremden«, denen sie begegnen, häufig ethnische Koreaner, die dieselbe Sprache sprechen, ähnliche Essgewohnheiten haben und mit ihnen einige kulturelle Werte teilen. Mit ein wenig Glück können sie sogar wie Shin eine Arbeit, Unterkunft und ein gewisses Maß an Sicherheit finden.
Dies alles geht zurück auf die späten sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, als Nordkorea von einer Hungersnot heimgesucht wurde und viele Bauern, um dem Hungertod zu entfliehen, über den Tumen und den Jalu in den Nordosten Chinas flohen. Später rekrutierte Chinas kaiserliche Regierung koreanische Bauern als Puffer gegen
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